von Jonathan scheiner
Ein junger Mann fährt mit seinem Skateboard über den Flur. Nichts Besonderes im »Karostar«. So heißt das Existenzgründerzentrum zwischen Schanzen- und Karolinenviertel auf St. Pauli, ein großflächig verglaster Riegel auf dem Gelände eines ehemaligen Rinderschlachthofs. Hier haben junge Kreative seit rund einem Jahr eine Heimat gefunden. Musiklabels, Architekten und Medienfirmen arbeiten Tür an Tür. Auch das Datscha-Projekt hat hier sein Büro. Das Künstlerkollektiv besteht aus sechs jungen Russen, die vor Jahren mit ihren Eltern als jüdische Kontingentflüchtlinge aus St. Petersburg an die Elbe kamen.
An eine Datscha erinnert nichts in dem zehn Quadratmeter großen Büroraum. Das Einzige, was hier wuchert, ist der üppige Kabelsalat unter dem Schreibtisch. Datscha ist ein Synonym für die geliebte russische Heimat, sagt Projektkoordinatorin Tatjana Lidokhover. Das Kollektiv hat sich ins Programm geschrieben, »osteuropä-ische Lebensfreude bundesweit zu verbreiten« und die Musik Russlands »zur Weltmusik zu machen«. Mit dem verdienten Geld wollen sich die sechs Freunde später einmal »eine Datscha auf der Krim bauen lassen«. So steht es auf ihrer Homepage.
Tatjana Lidokhover hat in St. Petersburg Robototechnik am Institut für Flugzeuggerätebau studiert. In den Westen übergesiedelt, sattelte sie auf Soziologie an der Hamburger Universität um. Nach dem Diplom arbeitete sie zunächst an der Hochschule weiter. Doch statt sich in eine wissenschaftliche Karriere zu stürzen, hob sie das Datscha-Projekt aus der Taufe. Ihre anfänglichen Motive hat sie einmal dem Online- Magazin »spiesser.de« verraten: »Wir integrieren die Deutschen in unsere Kultur statt andersrum.«
Angefangen hat alles mit Privatpartys, bei denen sich Gleichgesinnte zu Beats aus der alten Heimat trafen. Bald sprach sich das in Hamburgs Szene herum. Immer mehr Nichtrussen kamen. »Irgendwann sind wir einfach zu groß geworden. Also haben wir größere Räume angemietet, um weiterfeiern zu können«, erzählt Lidokhover. Inzwischen steigen die Partys in Clubs wie dem »Uebel + Gefährlich«, einem Flakbunker aus dem Zweiten Weltkrieg oder im »Fundbureau«, wo am 23. Februar eine »russisch-italienische Tanzveranstaltung mit Figli di Madre Ignota« steigt, einer, laut Ankündigung »Spaghetti Balkan Band aus Mailand«. Für die Party am 8. März hat man eine französische Gruppe mit dem unaussprechlichen Namen »Les Fils de Teuhpu« eingeladen. Im Anschluss an die Konzerte legen die beiden Datscha-DJs Rodion Levin und Andrej Lido osteuropäische Musik auf. Vladislav Estrin, ein weiterer Datschist, zeigt dazu Filme. Das Konzept ist so erfolgreich, dass es inzwischen auch in andere Städte exportiert wurde. »Leider haben wir anfangs versäumt, eine CD mit unserer Musik zu machen, denn in den Gründungsjahren der Datscha war russische Musik keineswegs so populär wie heute«, bedauert Rodion Levin. Mittlerweile hat sich das gründlich geändert. Der Mix von osteuropäischen Melodien und tanzbaren Beats ist angesagt. Wladimir Kaminers und Yurij Gurzhys Russendisco und DJ Shantels Bucovina-Club florieren. Und das Datscha-Projekt eben.
Was als Privatvergnügen von sechs Partymachern begann, wirft inzwischen sogar Geld ab. Viele Partygänger wollten die Musik kaufen, die sie beim Tanzen gehört hatten. Flugs war die Idee eines Online-Shops geboren. Kaufen kann man dort Perlen postsowjetischer Musik: Krim-Ragga-Hop von 5Nizza, La Minors Verbrecherchansons und Gaunerjazz aus St. Petersburg, postfeministische Punk-Rock-Chansons von Babsley, das Elektronik-Duo Messer für Frau Müller oder die Gruppe Dva Samoletta, zu deutsch »zwei Flugzeuge«, die als »Helden des russischen Afrobeat« angepriesen werden. Vielversprechend klingt auch Karl Hlamkin & Let’s Get Drunk Orchester. Ebenfalls im Angebot sind DVDs sowjetischer Kultfilme wie Moskau glaubt den Tränen nicht (natürlich mit deutschen Untertiteln), sowie Datscha-T-Shirts in verschiedenen Farben für Männer und Frauen. Und wie steht es mit Jüdischem? »Klar gibt es bei uns das auch«, sagt Tatjana Lidokhover. Bands wie Dobronotch etwa, ein balkan-russisch-jüdisches Orchester, oder Solomon Schwartz, der aus jiddischen Kamellen wie Ich hob dich Tzufil Lieb Twist fabriziert. Doch der Schwerpunkt ist eindeutig und bewusst russisch. »Wir sind alle jüdischer Abstammung«, sagt die Projektkoordinatorin. »Aber jüdische Traditionen befolgen eher unsere Eltern. In Deutschland fühle ich mich mehr als Russin und nicht als Jüdin.«
Mittlerweile ist das Datscha-Projekt nicht nur fester Bestandteil der Hamburger Clubszene, sondern fast auch schon der etablierten Kultur. Zur fünfzigjährigen Städtepartnerschaft zwischen Hamburg und St. Petersburg vergangenes Jahr organisierten die sechs jungen Zuwanderer im Auftrag der hanseatischen Kulturbehörde das »Zoom-Festival« mit Filmen und Musik aus der Ostseemetropole. Inzwischen bietet das Kollektiv auch Reisen nach St. Petersburg an. Auf dem Programm stehen allerdings nicht die Eremitage oder der Newskij-Propekt, sondern Ausflüge in die schillernde Clubszene der Stadt, darunter Locations, die ein Fremder niemals finden und – wie die Dat-schisten glaubhaft versichern – ohne ortskundige Begleitung auch nie wieder lebendig verlassen würde.
www.datscha-projekt.de