von Ingo Way
Analogien sind eine Versuchung für Politologen und Historiker. Wenn das Ereignis A gewisse Ähnlichkeiten mit dem Ereignis B aufweist, liegt es dann nicht nahe zu sagen, A sei »wie« B? Zum Beispiel: In der Gegend X – sagen wir: auf dem Balkan – erklärt ein Volk seine Unabhängigkeit und will einen eigenen Nationalstaat gründen. In der Gegend Y – sagen wir: im Nahen Osten – geschieht Ähnliches. Ist das gleiche wirklich dasselbe?
Der israelische Politikwissenschaftler Shlomo Avineri warnte am vergangenen Wochenende in Jerusalem vor derartigen gedanklichen Kurzschlüssen. Anlass war die Tagung »Ottoman Roots of Contemporary Realities: The Middle East and The Balkans Compared«, die von der Hebräischen Universität Jerusalem gemeinsam mit der deutschen Konrad-Adenauer-Stiftung veranstaltet wurde. Wissenschaftler aus Israel, Deutschland, Österreich, Frankreich, Großbritannien und Kroatien gingen der Frage nach, welche Spuren 400 Jahre osmanischer Herrschaft in so unterschiedlichen Weltgegenden wie dem Balkan und dem Nahen Osten hinterlassen haben. Die einzelnen Beiträge widmeten sich Details wie dem Gildensystem im Osmanischen Jerusalem, dem Vergleich der Städte Saloniki und Beirut oder der Sexualordnung im spätosmanischen Reich.
Shlomo Avineri ging in seinem Beitrag »Wenn Weltreiche zusammenbrechen« eher ins Grundsätzliche. Zwar verglich er das Ende zweier Reiche, des Osmanischen wie des Habsburgerreichs, legte dar, wie beides mit ethnischen Konflikten und Nationalbewegungen zu tun hatte, kam dann aber zu dem Schluss, dass es ein Fehler sei, einen Nationalitätenkonflikt zum Präzedenzfall für alle anderen zu erklären. Damit wendete sich Avineri gegen Versuche, den Konflikt um die Unabhängigkeit des Kosovo mit dem Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern gleichzusetzen. »Weder sind die Serben die Israelis und die Kosovoalbaner die Palästinenser des Balkans, noch umgekehrt«, so Avineri. »Jeder Konflikt ist ein Konflikt sui generis. Man muss jeden Fall für sich betrachten. Universallösungen gibt es sowieso keine.«
Dennoch gibt es natürlich Parallelen. Avineri legte dar, wie beide Reiche nach dem Ersten Weltkrieg durch Unabhängigkeitsbestrebungen einzelner Ethnien und Nationalitäten auseinandergerissen wurden. Die Liberalität, die die Habsburger den Ungarn seit den 1860er-Jahren gewährt haben, erwies sich als der Anfang vom Ende. »Im Habsburgerreich wurden zuletzt sechs verschiedene Sprachen gesprochen. Das Parlament konnte so nicht mehr arbeiten. Der Vorläufer unseres heutigen Multikulturalismus ließ das Reich auseinanderbrechen«, erklärte er.
Avineri wies auch darauf hin, dass es gerade jüdische Schriftsteller wie Joseph Roth waren, die der k.u.k.-Monarchie nachtrauerten: Unter feudaler Herrschaft genossen Juden einen gewissen Schutz; in den nationalistischen Nachfolgestaaten jedoch konnte sich der Antisemitismus ungehindert Bahn brechen. Im Königreich Österreich-Ungarn gehörte noch jeder irgendeiner Minderheit an. Nun waren die Juden die einzige Minderheit.
Auch die Nationalitätenkonflikte auf dem Balkan und im Nahen Osten zeigten mehr Unterschiede als Gemeinsamkeiten, erläuterte die Historikerin Amy Singer von der Universität Tel Aviv. So waren die arabischen Gebiete schon vor der Eroberung durch die Osmanen muslimisch und auch sprachlich weitgehend homogen. Auf dem Balkan hingegen war die Bevölkerung mehrheitlich christlich und verständigte sich in verschiedenen Sprachen. Die Bevölkerungen des Balkans waren viel heterogener, was die bis heute anhaltenden Spannungen erkläre.
Was diese Erkenntnisse für die Beurteilung des aktuellen Nahostkonflikts bedeuten, sprach Singer, vielleicht aus political correctness, nicht aus. Aber ihre Ausführungen legen die Deutung nahe, dass der heutige Nahostkonflikt weniger mit den Bürgerkriegen auf dem Balkan zu analogisieren ist.
Eher schon müsste man schauen, ob er nicht mit der Abneigung einer arabisch-muslimischen Mehrheit gegen jüdische Präsenz zu tun hat. Das wiederum ist eine Frage für weitere Konferenzen.