von Martin Krauss
Um zu bemerken, dass Fußball mehr als ein Spiel ist, gab es jüngst in Wien zwei Möglichkeiten. Entweder man schlenderte über den Ring, wo weder Autos noch Trams fuhren, denn die Euro-Fanzone hatte alles in Besitz genommen. Oder man ging zur Tagung »Mehr als ein Spiel« des Internationalen Forschungszentrums Kulturwissenschaften, die kurz vor Beginn der EM stattfand.
»Demagogisch«, »infam«, »ganz übel, was Sie da machen«. Was die Emotionalität der Debatte anging, konnten sich die Veranstalter nicht beklagen. »Der Fußball und seine Geschichten«, wie der Untertitel versprach, hatte auch etwas mit dem Fußball und seinen Gefühlen zu tun. Den Zorn auf sich zog Jürgen Wertheimer, Literaturwissenschaftler aus Tübingen, der sich zu einer grundsätzlichen Kritik des Fußballs berufen sah. Wertheimer begann seinen Vortrag mit einem Zitat des ungarischen Nobelpreisträgers Imre Kertész, der in seiner Autobiografie berichtet, dass er »über einen Fußball- platz sehr erfreut« war, der ihm und seinen Freunden »verlockend, frisch, in allerbestem Zustand und größter Ordnung« erschien – und in Auschwitz stand. Für Wertheimer war das Anlass, den Fußball als »größtes Verharmlosungsprojekt der Welt« zu charakterisieren. Die versammelten dem Fußball zugeneigten Intellektuellen nähmen nicht zur Kenntnis, dass der Fußball eine »potenziell tödliche Dimension« besäße, er sei eine »Hölle für alle diejenigen, die sich als kritische, individuelle, rationale und manchmal sogar aufgeklärte Wesen betrachten möchten«. Davon seien Fußballfans weit weg, und Wertheimer projizierte Fotos von Menschen, die beim Fußball mitleiden oder jubeln, an die Wand, um das, was er unter »Hölle« versteht, zu illustrieren.
Dies, wie auch sein Versuch, sich auf den lebenslangen Fußballfan Imre Kertész zu berufen, brachte Wertheimer den Vorwurf des Demagogen ein, der ohne Respekt Menschen denunziere und der sich kein bisschen damit beschäftige, was Fußball den Menschen wirklich bedeute.
Kenntnisreich wurde bei der Konferenz darüber berichtet und gestritten, wie sich im Wiener Fußball stets die Linien eines liberalen, oft säkularen Judentums mit denen eines proletarisch kodierten, oft stark antisemitisch geprägten Fußballs trafen. In Wien steht der Fußballklub Austria für die kosmopolitische und bürgerliche Tradition des Fußballs, Rapid hingegen für die proletarische.
Der Mathematiker und Philosoph Andreas Hafer stellte die Biografie Hugo Meisls vor, eines jüdischen Wiener Fußballtrainers und -journalisten, der in den 20er- und 30er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts das »Wunderteam« formte, das – man hat es heutzutage längst vergessen – den besten Fußball der Welt spielte, und der dafür die organisatorischen Voraussetzungen schaffte: Professionalismus, internationaler Austausch gerade mit England und beinahe wissenschaftliche Aus- wertung des Fußballs. Meisl war der erste Trainerstar des Fußballs, seine Beerdigung 1937 war die letzte Massenmanifestation des jüdischen Wiens vor dem »Anschluss«.
Der Germanist Wendelin Schmidt-Dengler und der Politologe Andrei S. Markovits sprachen über ihre sehr persönlichen Erfahrungen mit dem Wiener Fußball. Schmidt-Dengler, Rapid-Fan seit seiner Kindheit, lotete in Ahnlehnung an Elias Canetti die Irrationalität aus, Teil der Fußballfanmasse zu sein zu wollen: »Als Anhänger des Vereins fühle ich mich davon abgestoßen und angezogen.« Markovits, der als Kind aus dem rumänischen Temesvar nach Wien kam, berichtete, wie prägend für ihn der Besuch des ersten Fußballspiels war: Der Wiener Sportclub schlug Juventus Turin 7:0. Erst später bemerkte Markovits, dass der WSC eine noch deutlichere antisemitische Tradition verfolgte als beispielsweise Rapid, und er zog sich von dem Verein zurück. Aber die heimliche Liebe des Jungen, der »mehr als ein Spiel« gesehen hatte, blieben der WSC und seine Stars.
Die Besonderheit des Fußballs, Konflikte und Ambivalenzen stärker herauszustellen als manch anderes Kulturphänomen, zeigte die Wiener Tagung sehr deutlich.