von Wladimir Struminski
Was eine Mazze-Bombe ist, weiß jeder, der sich beim Seder eine Überdosis der ungesäuerten Backfladen zugeführt hat. Jetzt ließ das Amtsgericht in Jerusalem pünktlich zu Pessach eine Chametz-Bombe fallen. Wenige Tage vor dem Fest wies die Richterin Tamar Bar Ascher-Zaban die gegen ein Imbissrestaurant, ein Café, eine Pizzeria und einen Lebensmittelkiosk wegen des Verdachts auf Verstoß gegen das Pessachgesetz erhobene Anklage als unbegründet zurück. Die vier Jerusalemer Geschäfte hatten während des vorjährigen Pessachfestes Brot und andere gesäuerte Teigwaren feilgeboten. Daraufhin schaltete sich die Staatsanwaltschaft ein und forderte, Iwo Meatburger, Pizza Chili, Restobar und Terminal 21, so die Namen der Etablissements, wegen eines Verstoßes gegen das »Pessachgesetz« zu bestrafen. Dieses, so die Ankläger, untersage während der Pessachwoche den öffentlichen Verkauf von Brot, Brötchen, Fladenbroten und allen anderen gesäuerten Teigwaren. Diesen Gesetzesverstoß vermochte die Richterin indessen nicht nachzuvollziehen. Gaststätten und Kleinanbieter von Lebensmitteln seien keine »Öffentlichkeit« im Sinne des Gesetzes. Jedenfalls dann nicht, wenn der Verkauf nicht auf der Straße, sondern im Ladeninneren stattfinde. Die Angeklagten gaben sich erleichtert, Hunderte anderer Gaststätten wollen zu Pessach 5768 ebenfalls Brot anbieten.
In religiösen Kreisen löste das Urteil Zorn aus. Das Chametzverbot, mahnte Israels aschkenasischer Oberrabbiner Jona Metzger, lasse sich nicht »juristisch deuten«. Leider habe das Gericht die Halacha »übergangen«: eine sarkastische Anspielung auf das Übergangsfest. Das Urteil, zürnte Religionsminister Jitzchak Cohen (Schas) komme einer Pistole gleich, die das Gericht dem jüdischen Volk an die Schläfe gedrückt ha-
be. Der ultraorthodoxe Knessetabgeordnete Mosche Gafni und sein nationalreligiöser Kollege Swulun Orlew forderten von der Regierung, das, so Gafni, »lächerliche Urteil« anzufechten. Orlew kündigte an, sich auch direkt an den Rechtsberater der Regierung, Meni Masus, zu wenden.
Ob das hilft, ist offen. Das Gesetz verbietet nämlich nicht ausdrücklich jeglichen Verkauf von Chametz. Vielmehr heißt es lediglich, »von der Mittagsstunde des 14. Nissan bis zwanzig Minuten nach dem Sonnenuntergang des 21. Nissan« – also in der Pessachwoche – sei es Geschäften verboten, »gesäuerte Waren für den Verkauf oder für den Verbrauch öffentlich auszustellen«. Als gesäuerte Waren gelten Brot, Brötchen, Pitabrote und sonstige Produkte aus Mehl. Sinn des Gesetzes, meint denn auch Amnon Rubinstein, einer der führenden israelischen Juristen und ehemaliger Minister der laizistischen Meretz-Partei, ist es, die Gefühle der religiösen Bevölkerung zu achten, nicht aber in die Religionsfreiheit der Bürger einzugreifen. Religiösen Kritikern ist solche weltliche Juristerei egal. Aus ihrer Sicht ist das Pessachgesetz ohnehin ungenügend. Dass es jetzt weiter ausgehöhlt wurde, ist erst recht inakzeptabel. Daher will Awraham Rawitz, Abgeordneter des Vereinigten Tora-Judentums das Gesetz umgehend ändern. Statt des öffentlichen Verkaufs soll jeglicher Verkauf von Chametz untersagt werden. »Religionszwang«, doziert er, »ist in bestimmten Fällen unerlässlich, um althergebrachte jüdische Symbole zu schützen.«
So hat die Jerusalemer Richterin mit ih-
rem Urteil eine neue Runde im israelischen Kulturkampf eingeläutet. Am Montag erreichte der Streit die Knesset. Trotz Frühjahrspause kam das Parlament zu ei-
ner von ultraorthodoxen Abgeordneten ge-
forderten Sondersitzung zusammen, um über das Chametz-Urteil zu beraten. Dabei stimmte die Knessetvorsitzende, Dalia Itzik mit den Stenggläubigen zumindest in einem Punkt überein: Das Problem, so Itzik, müsse vom Gesetzgeber, nicht von den Gerichten gelöst werden. Was das in der Praxis bedeutet, bleibt allerdings offen. In den beiden großen Regierungsfraktionen, denen von Kadima und Arbeitspartei, gibt es keine Mehrheit für eine Verschärfung des geltenden Rechts. Dagegen wird sich die ebenfalls mitregierende Schas dem von Rawitz eingebrachten Begehren nicht entziehen können – selbst wenn sie es wollte. So kann das Chametz-Urteil den Bestand der Regierungskoalition gefährden.
Natürlich wissen auch die frommen Deputierten, dass kein Verkaufsverbot die Pessachgewohnheiten der Israelis ändern wird. Aktuellen Umfragen zufolge nehmen sieben von zehn Juden über Pessach ohnehin kein Brot zu sich.
Die allermeisten Lebensmittelgeschäfte würden auch dann keine Chametzwaren führen, wenn das von Rechts wegen er-
laubt wäre. Schließlich wollen sie es sich nicht mit ihren religiösen Kunden verderben und den Hechscher aufs Spiel setzen. Die Supersäkularen wiederum können sich auch jetzt in arabischen Ortschaften und Stadtteilen mit Chametz versorgen. Dort gilt das Pessachgesetz nicht. Als Al-
ternative lassen sich Brot und Pitot vor dem 14. Nissan einfrieren. Nicht umsonst spottet der Volksmund, in Anspielung auf den islamischen Feiertag Id al-Fitr müsste Pessach auf Arabisch »Fest des Gefrierfachs« heißen: Id al-Freezer.