von Rabbiner Berel Wein
Es ist ein altehrwürdiger jüdischer Brauch, dass es in Zeiten von Gefahr und Un-
terdrückung, ganz gleich ob für eine Einzelperson oder für das jüdische Volk als Ganzes, angebracht ist, Tehillim (Psalmen) zu lesen, um die Situation zu verbessern. Der Zweck dieses Rezitierens liegt natürlich darin, Gott anzuflehen, einer gefährdeten Person oder dem Volk Israel im Fall einer Bedrohung beizustehen.
Das Rezitieren von Tehillim galt immer als eine der wichtigsten Israel zur Verfügung stehenden Waffen, um in einer äu-
ßerst feindlichen Welt zu überleben. Da Gott und seine Wege unergründlich sind, fehlt es uns fast immer an einem exakten Maß, um herauszufinden, welche Wirkung das Psalmen-Gebet in einer bestimmten Situation hat. Dennoch glauben Juden, dass das Rezitieren von Tehillim in schweren Zeiten ein notwendiges und wirksames Mittel ist, sich um Hilfe an den Herrn zu wenden, wenn sonst alle Maßnahmen, der Not abzuhelfen, gescheitert sind.
Der Nutzen ist aber nicht darauf beschränkt, die Situation selbst zu verbessern. Es geschieht ebenso – und vielleicht hauptsächlich – zum psychologischen und spirituellen Gewinn der Rezitierenden selbst. Es bietet dem ansonsten hilflosen Zuschauer die Gelegenheit, etwas Hand-
festes zur Sache beizutragen, und sich in der Zeit der Not, der man ausgeliefert ist, produktiv zu fühlen. Man sollte in schweren und stressvollen Zeiten das Bedürfnis für ein solches Ventil nie unterschätzen.
Das Tehillim-Gebet ist nicht nur tröstlich, es ist auch vorausschauend. In unserer Synagoge rezitieren wir zum Beispiel den 83. Psalm. Dieser vor über 2.000 Jahren geschriebene Psalm nennt alle unsere gegenwärtigen Feinde beim Namen. Die Palästinenser werden erwähnt, ebenso die Bewoh-
ner von Tyros in Libanon. Auch das heutige Syrien wird im Psalm mit einem indirekten Verweis gewürdigt. Amalek, unser uralter, anscheinend unverwüstlicher Feind, findet ebenso Erwähnung. Amalek taucht in der Welt und in der jüdischen Geschichte unter verschiedenen Masken auf. In der Purim-Erzählung wird Haman als Nachfahre Amaleks geschildert. Jener Amalek war Herrscher über Persien, den heutigen Iran. Haman hat im derzeitigen Iran würdige Nachfolger gefunden.
So beschreibt das »Programmheft« des 83. Psalm die gesamte Riege der Hauptdarsteller in unserem gegenwärtigen Drama. Ich finde es eigentümlich trostreich, dass dieser Psalm sich nicht wie antike Ge-
schichte liest, sondern die Tagesereignisse wiedergibt. Es stärkt mich in meinem Glauben an die Wirkmächtigkeit und Relevanz des Tehillim-Rezitierens in Zeiten wie unserer. Und es untermauert meinen Glauben daran, dass, so wie die alten Feinde Israels besiegt und auf den Aschenhaufen der Geschichte geworfen wurden, dieses Schicksal, vollstreckt durch die Hand des Volkes Israel und seines Gottes, auch ihre zeitgenössischen Nachfolger ereilen wird. Am tröstlichsten an Tehillim ist das Gespür für die Wirklichkeit der Situation und die optimistische Vorhersage, dass am Ende ein Sieg stehen wird.
In einem alten jüdischen Witz läuft ein Jude im Angesicht einer drohenden Katastrophe voller Verzweiflung weg und schreit: »Wir können uns nicht mehr auf Wunder verlassen. Lasst uns deshalb beginnen, Tehillim zu beten!«
Juden betrachten das Rezitieren von Tehillim als natürliche Reaktion auf eine bedrohliche Situation und nicht nur als den Schrei nach Wundern. Was immer die jeweilige Bedrohung mit sich bringt, es gibt den passenden Psalm, der uns auf irgendeine Weise hilft, mit den Ereignissen und dem Trauma fertig zu werden. Die Rabbiner des Talmuds räumten dem Rezitieren von Tehillim den gleichen Rang wie dem Tora-Studium selbst ein.
Für unzählige Juden auf der ganzen Welt ist das Rezitieren von Tehillim ein alltäglicher Vorgang. Die Psalmen sind ein wichtiger Teil unseres täglichen Gebets. Tehillim werden in der rituellen Praxis des Judentums bei jeder Gelegenheit und bei Trauungen und Beerdigungen gelesen. Tehillim sind freudevoll und erfüllt von Liedern. Und sie sind nüchtern und realis-
tisch. In unserer Stunde der Not kommen sie zu uns und trösten uns in unserem
tiefsten Gefühl von Verlust, Schmerz und Trauer.
Die Psalmen sind mit uns unter dem Hochzeitsbaldachin und am Grab, bei uns zu Hause und in unserer Synagoge, im Krankenhaus und im Wartezimmer des Arztes. Sie sind das vielleicht allgegenwärtigste Buch in der jüdischen Bibliothek, denn es begleitet uns überall auf unserer Lebensreise.
Zur Zeit des Tempels bildeten die Tehillim die Texte zur Musik der Leviten. In unserer Zeit sind die Worte Balsam für unsere Seelen und Trost für unsere gebrochenen Herzen.
Nachdruck mit freundlicher Genehmigung von www.rabbiwein.com