Es war ein bewegender Moment: Da standen zwei alte Damen, 97 und 82 Jahre alt, die Gerettete und eine ihrer Retterinnen, im Freilichtkino auf der Piazza Grande von Locarno vor rund 8.000 Zuschauern; und der Applaus wollte nicht enden. Dieser Applaus war der Ehrwürdigkeit des Alters ebenso geschuldet wie den Lebenserfahrungen und den Taten von Marga Spiegel und Anni Aschoff. Er zeigte aber auch das erwartungserfüllte Wohlwollen des Festivalpublikums für Unter Bauern – Retter in der Nacht, das gleich am ersten Abend des Filmfestivals Premiere hatte.
Der Film basiert auf den Erinnerungen von Marga Spiegel, die 1962 unter dem Titel Retter in der Nacht erschienen sind. Die jüdische Familie Spiegel lebte im westfälischen Ahlen. Hugo Spiegel, der Vater, im Film dargestellt von Armin Rohde, war Pferdehändler. Lange konnten die Spiegels dem Abtransport in die Todesfabriken im Osten entgehen. Als sich Anfang 1943 die Mordschlinge der Nazis immer enger zuzog, flohen sie aufs Land. Münsterländische Bauern versteckten Mutter und Tochter unter falscher Identität auf ihrem Hof. Hugo Spiegel musste über zwei Jahre lang in Kammern und Dachböden unterkriechen, konnte nur nachts gelegentlich ins Freie. Durch ihren Mut setzten die Bauern ihr eigenes Leben und das ihrer Familien aufs Spiel – trotzdem war ihr Handeln für sie eine mitmenschliche Selbstverständlichkeit. »Der Film räumt auf mit der Legende, dass Widerstand und Zivilcourage unter den Nazis nicht möglich waren«, sagte Marga Spiegel am Premierenabend und erinnerte zugleich daran, dass sie und ihre Familie die einzigen drei von den zu Kriegsbeginn noch knapp 100 in Ahlen lebenden Juden waren, die die Schoa überlebten. »Zu viele glaubten der antisemitischen NS-Propaganda, andere passten sich ohne Not an, verweigerten Hilfe oder denunzierten gar.«
Unter Bauern ist ein Film, der weitgehend ohne die im deutschen Kino bei historischen Stoffen oft geübte Gefühlsduselei auskommt, seine Geschichte vergleichsweise nüchtern und trotzdem emotional erzählt, zudem mit einigem Sinn für ihre kleineren Absurditäten. Ein Grund dafür könnte sein, dass der Niederländer Ludi Boeken Regie führte, der selbst aus einer jüdischen Familie stammt und mit Verfolgung und glücklichem Überleben vertraut ist. Zu den Stärken des Films tragen auch einige der Darsteller bei. Margarita Broich in der Rolle der Bauersfrau überzeugt sehr. Noch mehr tut dies die bislang völlig unbekannte Lia Hoensbroech. Sie hat in der Rolle der Tochter Anni Aschoff den weitesten Weg zurückzulegen: Vom führergläubigen BDM-Mädel zur besten Freundin der Marga Spiegel und ihrer kleinen Tochter Karin. Das geht allerdings ein bisschen sehr schnell, da wünscht man sich, der Film würde seinen Figuren mehr Zeit gönnen, statt einen derartigen Bewusstseinswandel im Stechschritt dreier schnell aufeinander folgender Szenen abzuhandeln.
Zum einzigen Schwachpunkt im Ensemble wird ausgerechnet die prominente Hauptdarstellerin: Veronica Ferres ist mit Mitte 40 in der Rolle der damals gerade 30-jährigen Marga Spiegel schon etwas zu alt und wirkt auch sonst wie ein Fremdkörper in der Darstellerriege. Trotz routinierter Betroffenheitsmiene nimmt man ihr nie wirklich eine Frau ab, die lebensbedrohlicher Verfolgung ausgesetzt war. Und Ferres’ gerade mal drei verschiedene Gesichtsausdrücke reichen für die große Leinwand sichtlich nicht aus.
Auch ist das Gesamtbild, das der Film vom Alltag in Nazideutschland zeichnet, insgesamt zu idyllisch: Man begegnet kaum einem überzeugten Nationalsozialisten, an den Führer glauben nur unbedarfte Jugendliche und eine debile Alte. Die Behörden erscheinen freundlich, kumpelhaft und augenzwinkernd nachsichtig – allein in den marodierenden SS-Einheiten kurz vor Kriegsende scheint kurz die Gnadenlosigkeit des Regimes, die Härte seiner Verfolgungsmaschine auf. An anderen Stellen hält sich der Film nicht an die Realität. Anni Aschoff, die seinerzeit 16-jährige Tochter der Bauernfamilie, erzählt, dass sie »nur einmal eine BDM-Uniform« getragen habe, nicht, wie im Film, andauernd, und, darauf legt sie größten Wert, dass sie als Jugendliche »nie glühende Nazi-Anhängerin gewesen« sei.
Derartige »dramaturgische Vereinfachungen« kennt man von anderen Beispielen des gegenwärtigen Geschichtskinos. Ob sie wirklich zur Verständlichkeit beitragen oder nicht am Ende mehr von der historischen Wirklichkeit verhüllen, darüber kann man lange streiten. Der Wert von Unter Bauern, der im Oktober in die deutschen Kinos kommt, liegt jedenfalls vor allem darin, Aufmerksamkeit auf ein unbekanntes vergessenes Kapitel der Verfolgung im Dritten Reich zu richten, das Leben und Sterben der deutschen Landjuden – und auf oft vergessene stille Helden wie die münsterländische Bauernfamilie Aschoff. Rüdiger Suchsland
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