Sderot

Rette sich, wer kann

von Wladimir Struminski

Nichts ist so trügerisch wie ein stiller Tag in Sderot: die freundlichen Grüße, die Be-kannte auf der Straße austauschen, die Kaufleute, die sich eine kleine Verschnaufpause vor der Ladentür gönnen, der Sonnenschein eines warmen Wintertages. Doch jederzeit kann der Raketenalarm aufheulen. Dann laufen die Menschen auseinander, gehen in Deckung. Wie Soldaten nehmen die Bewohner der nur einige hundert Meter von der Grenze zum Gasastreifen entfernten Stadt die nächstgelegene Schutzmöglichkeit ständig wahr. »Ein fes-tes Dach ist das Wichtigste«, weiß Awschalom, mit seinem zweieinhalbjährigen Sohn im Stadtzentrum zu Besorgungen unterwegs. »Wenn es jetzt ›Rote Farbe‹ gibt«, so heißt der Kassam-Alarm, »packe ich den Kleinen und laufe dorthin«. Mit einer Kopfbewegung zeigt Awschalom auf die zehn Meter entfernte, aus Beton gebaute Lottoannahmestelle. Da entwickelt auch der Besucher Frontstadtwachsamkeit. In der Imbissbude stehen die Gäste unter ei-
nem Sonnenschutzdach aus Stroh. Dagegen ist die Küche überdacht. Bei Bedarf ist man im Handumdrehen dort.
Wohin aber sollen die beiden Seniorinnen rennen, die sich gerade mühevoll auf eine Bank in der kleinen Fußgängerzone gesetzt haben und ihre nach russischer Art unter dem Kinn gebundenen Kopftücher zurechtrücken? Zwischen Alarm und Einschlag vergehen nur 15 bis 20 Sekunden. Und was machen die beiden alten Herren, die auf ihren Invaliden-Dreirädern mit Hilfsmotor die Straße hinunterrollen?
Selbst auf das eigene Zuhause ist nicht immer Verlass: »Viele Häuser in Sderot haben Leichtbaudächer«, erklärt der Gärtner Daniel Suissa. So etwa das Haus der Familie Amar in der Sinai-Straße, in das am vergangenen Freitagnachmittag eine Kassam einschlug. Die Küche ist verwüs-tet. Auf dem Fußboden vermischen sich die Trümmer mit Schabbateinkäufen. »Wir kommen seit sieben Jahren nicht zur Ruhe«, klagt Suissa. In Sderot wächst eine Generation von Kindern heran, die kein Leben ohne Angst kennt.
Zur Angst gesellt sich Wut. »Die Regierung hat uns im Stich gelassen«, ist der Satz, den man fast von jedem Stadtbewohner zu hören bekommt. Eine ihrer zentralen Forderungen ist die Befestigung von Privathäusern und öffentlichen Gebäuden gegen die Kassams. Die beharrliche Weigerung des Kabinetts, Geld für Betonwände und -dächer herauszurücken, hat eine Gruppe von Bürgern jetzt zu einer Klage vor dem Obersten Gericht bewogen. Den von der Regierung geltend gemachten Grund – Geldmangel – finden die Kläger lächerlich. Für die Befestigung von 800 Häusern seien alles in allem 50 Millionen Schekel, etwa neun Millionen Euro, erforderlich. Aus Frustration und Verärgerung über die Tatenlosigkeit der Regierung hat der Bürgermeister von Sderot, Eli Mojal, in der vergangenen Woche seinen Rücktritt erklärt. Nur auf Drängen von Verteidigungsminister Ehud Barak nahm der zum Nationalhelden aufgestiegene Stadtvater seine Demission zurück.
Ohne die Kassams, so der Immobilienmakler Jaakow Levy, ließe sich in Sderot hervorragend leben. »Es ist eine Stadt mit vielen guten Menschen. Es gibt viele Chancen auf dem Arbeitsmarkt. Wir ha-
ben eine Industriezone. Nach dem Rück-
zug aus Gasa sind einige Betriebe aus Eres, der ehemaligen Industriezone an der Grenze zum Gasastreifen, nach Sderot umgezogen.« Unter den heutigen Umständen aber sei das Leben unerträglich. Bisher, so der Pressesprecher der Stadtverwaltung, Josef Pinchas Cohen, sind schät-
zungsweise 1.200 Menschen aus Sderot fortgezogen. Das sind rund fünf Prozent der Stadtbevölkerung: angesichts der ständigen Bedrohung eine vielleicht überraschend niedrige Zahl. Indessen glaubt Levy, auch anhand seiner eigenen Berufserfahrung: »Wenn sie könnten, würden alle die Stadt verlassen.«
Wie Sderot leiden auch kleinere Kommunen in der Umgebung. In der vergangenen Woche feuerten palästinensische Ra-
ketenschützen an einem einzigen Tag 20 Kassams auf den »Gasa-Ring« ab, wie das Grenzgebiet genannt wird. Im Kibbuz Sikkim entkamen Siwan Gertel und ihr zwei-
einhalbjähriger Sohn Rom nur knapp dem Tod, als eine Kassam ihr Haus zerstörte. Im Kibbuz Gewim landete eine Rakete nur einen Meter vor der Kunststofffabrik Po-
leg. »Wir hatten bereits Einschläge 30 und zehn Meter von dem Betrieb entfernt«, berichtet Generaldirektor Zvika Kochavi. »So knapp war es aber noch nie.« Glück im Unglück: Es gab keine Verwundeten, ein Mitarbeiter erlitt einen schweren Schock. Auch der Sachschaden war gering. Durch das Genossenschaftsdorf Netiv Ha-Assara, unmittelbar an der Grenze gelegen, verläuft eine unsichtbare Grenze: Der südliche Teil liegt in Reichweite palästinensischer Granatenwerfer, der nördliche nicht. So entstand in dem kleinen Ort ein Nord-Süd-Gefälle besonderer Art.
Immer mehr Bewohner des »Rings« fordern nicht nur passiven Schutz, sondern aktivere Maßnahmen gegen den Raketen-terror. »Befestigen allein ist keine Lösung. Israel muss in Gasa angreifen«, sagt, stellvertretend für viele, der Makler Levy.
Die Bodenoffensive lässt aber auf sich warten. Zwar drohen Regierung und Armee immer wieder mit massivem Einmarsch. »Man kann eine Terrororganisation nicht besiegen, ohne ihr Gebiet zu kontrollieren«, dozierte erst vor wenigen Tagen Generalstabschef Gabi Aschkenasi. In der Praxis aber zögern die Entscheidungsträger. Weder will das Kabinett die Friedensverhandlungen mit Palästinenserpräsident Machmud Abbas gefährden, noch möchte es hohe Kriegsverluste riskieren. Der vielleicht wichtigste Grund für die Zurückhaltung lautet aber: Niemand weiß wirklich, ob eine Wiederbesetzung Gasas das Problem der Gewalt zu lösen vermag.
So heißt es in und um Sderot nach wie vor: Rette sich, wer kann.

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