von Sabine Brandes
Süß sind ihre Träume selten. Oft drehen sie sich um Implantate in Ratten, Stammzellen, gezüchtete Gewebestücke und Blutgefäße. Doch Schulamit Levenberg scheut sich nicht, mit diesen Gedanken einzuschlafen. Im Gegenteil: Sie freut sich darüber. »Als Wissenschaftler hört man eigentlich nie auf, an die Arbeit zu denken. Auch nicht im Schlaf. Man denkt hin, man denkt her und dann das Ganze wieder von vorn. Nur so schreitet die Forschung voran.« Die Frau, die das sagt, ist Biologin, 37 Jahre alt, hat fünf Kinder und blitzende dunkle Augen. Und sie gehört seit kurzem zu den 50 führenden Wissenschaftlern der Welt.
Glaubt man dem Klischeebild des zerstreuten Professors, würde man Levenberg auf den ersten Blick kaum für eine Wissenschaftlerin halten, die mit ihrer Arbeit in kurzer Zeit Weltruf erlangte. Sie ist freundlich, fröhlich, aufmerksam, klar und bescheiden. Als die Forscherin und Dozentin der Abteilung biomedizinische Technik des Technion in Haifa den Brief des renommierten Fachmagazins Scientific American erhielt, habe sie sich sehr gefreut, aber gleichzeitig gar nicht so recht gewußt, was sie damit anfangen solle. Der Inhalt? Man teilte ihr in knappen Worten mit, daß sie es auf die Liste der 50 Top-Wissenschaftler des Jahres 2006 geschafft hatte.
Jetzt, nachdem die erste Verwirrung der Realität gewichen ist, fühlt Levenberg, daß ihr die offizielle Bestätigung mehr Motivation für ihre Arbeit gibt. »Jeder, der in diesem Feld beschäftigt ist, will medizinisch etwas Bedeutungsvolles schaffen«, sagt sie. »Und da freut es mich besonders, daß anerkannt wird, wie wertvoll unsere Forschung ist. Das gibt mir Kraft, die viele Zeit zu investieren.« Auch finanziell erhofft sie sich etwas von der Listennotierung. Denn oft sei es ein zermürbender Kampf, Forschungsgelder aufzutreiben. Unzählige Briefe und Bitten müßten geschrieben werden. »Hoffentlich wird das jetzt etwas einfacher.«
In der Liste von Scientific American werden all jene aufgeführt, die nach Ansicht der Herausgeber im vergangenen Jahr Wissenschaft und Technologie maßgeblich und richtungsweisend bestimmt haben. Traditionell werden Menschen oder Institutionen ausgesucht, die nach Meinung des Fachmagazins den Weg in eine bessere Zukunft weisen. Neben der besonderen Ehrung der Ausgewählten sollen deren Themenfelder hervorgehoben werden. In diesem Jahr sind vor allem die Alzheimerforschung, Genetik, Nanotechnologie (Forschung in kleinsten Strukturen der belebten und unbelebten Natur) sowie die Robotik vertreten.
Levenberg ist für ihre wissenschaftlichen Erfolge im Bereich der Gewebezüchtung ausgewählt worden. 2005 hatte sie mit Robert Langer vom Massachusetts Institute of Technology (MIT) in Boston ihre gemeinsamen Forschungen publiziert, die zum Durchbruch in der Herstellung menschlichen Gewebes führten. Die beiden hatten eine Methode angewandt, die sie nah an ihr Ziel brachte: Die künstliche Produktion von Gewebe für verschiedene medizinische Anwendungen, darunter auch solches für zerstörte Organe. Diese neue Methode könnte langfristig neue Ansätze für die Zell- und Wachstumsbiologie ergeben. Die herausragende Errungenschaft dabei war die Herstellung von Muskelgewebe mit einem Netzwerk von Blutgefäßen, in dem sich weitere Gefäße anlagerten. »Dieses Wachstum ist außerordentlich wichtig für die Transplantation und Integration neuer Organe«, erklärt die Expertin. Nach dem guten Ergebnis verpflanzte Levenberg das Muskelgewebe in eine Ratte und bewies, daß es nicht nur angenommen wurde, sondern daß die Blutgefäße positive Auswirkungen auf das Überleben des Transplantats hatten. Bislang war es nicht möglich, Blutgefäße in künstlich hergestelltem Gewebe wachsen zu lassen. Dies verhinderte vor allem die Produktion von dickem, komplexen Gewebe oder größeren Gewebestücken. »Zukünftig aber lassen sich auch große Stücke herstellen«, freut sich Levenberg. Und dies wird die Annahme von Fremdgewebe im menschlichen Körper so sehr verbessern, daß sogar die Verpflanzung von Muskelgewebe möglich sein wird.
Die Forscher hatten ein biologisch abbaubares Gerüst aus Plastik gebaut, das drei Arten von Zellen unterstützt: Myoblasten, die zu Muskelfasern werden, Endothelzellen, aus denen Blutgefäße entstehen sowie Fibroblasten als Vorboten der weichen Muskelzellen, die die Zellwände stärken. Das Team fand heraus, daß zweimal so viele Zellen überleben, wenn mit allen drei Zellarten implantiert wird. Diese Arbeit brachte bereits vier medizinische Neuheiten hervor, deren Patente derzeit in den USA geprüft werden. Sie umfassen unter anderem auch Tests mit embryonalen Stammzellen.
Dabei ist es nicht unbedingt selbstverständlich, daß die 37jährige an Stammzellen forscht. Denn Schulamit Levenberg ist religiös. Die Haare sind von einem Hut bedeckt, der Rock reicht bis über die Waden, die Ärmel des schlichten Pullovers sind lang. Über die Richtung ihrer Religiosität mag sie nicht sprechen. »Ich werde nicht gern in eine Schublade gesteckt, ich bin schlicht eine religiöse Jüdin.« Und als solche ist es für sie von großer Bedeutung, daß all ihre Forschungen in Übereinstimmung mit den jüdischen Religionsgesetzen geschehen. »Dabei kann es schon vorkommen, daß ich nicht genau weiß, wel- ches der richtige Weg bei einem speziellen Problem ist«, gibt sie zu. Was sie dann tut? Sie fragt ihren Rabbiner um Rat. »Und der hat bislang immer eine Antwort gehabt.«
Levenberg stammt aus einer religiösen Familie, in der alle Frauen arbeiteten. Eine genetische Veranlagung für die Biologie oder Forschung sei ihr aber nicht in die Wiege gelegt worden, sagt sie schmunzelnd. Alle sechs Geschwister seien in andere Richtungen gegangen. Biologie habe ihr einfach schon in der Oberschule Spaß gemacht. So sei sie dabei geblieben. Nach der Schule volontierte sie zwei Jahre für die SPNI, die Gesellschaft für den Schutz der Umwelt in Israel, und entschloß sich dann, Biologie zu studieren. Nach dem ersten Abschluß an der Hebräischen Universität in Jerusalem wechselte sie an das Weizman Institut in Rechovot und erlangte dort ihren Doktortitel für ihre Forschung im Bereich der Zellinteraktion. Ihr Doktorvater Professor Benny Geiger habe sie für die biologisch-medizinische Wissenschaft begeistert. »Er hat mir echte Liebe und Leidenschaft für die Forschung beigebracht.« Von 1999 bis 2005 ging sie mit ihrem Ehemann und den ersten drei Kindern als Forschungsassistentin an das MIT in Boston. Vor zwei Jahren rief sie das Haifaer Technion »zurück nach Hause«.
Trotz Doppelbelastung als erfolgreiche Wissenschaftlerin und Mutter von fünf Kindern im Alter von zehn Jahren bis acht Monaten würde Schulamit Levenberg nichts an ihrem Leben ändern. Einen Babysitter und eine Reinigungshilfe hat sie zu Hause, ansonsten macht sie alles selbst. Kochen, Spielen, Hausaufgabenbetreuung, Windeln wechseln und Denken, Denken, Denken. »Ich bin glücklich – es könnte nicht besser sein.« Die Arbeit im Bereich der medizinischen Forschung sieht sie als ihren Beitrag zu »Tikkun Olam«, die Welt ein Stück zu verbessern. Und das gibt ihr Zufriedenheit, so anstrengend manche Tage auch sein mögen. Davon, daß sie jetzt zu den 50 wichtigsten Wissenschaftlern der Welt gehört, habe sie noch nie geträumt, sagt sie und lacht. »Dazu bin ich wohl einfach zu müde.«