von Katrin Richter
Leise Töne dringen aus dem U-Bahnschacht. Am Fuß der Treppe sitzt ein kleiner Mann auf einem Schemel und sehnt sich auf seinem Akkordeon Vivaldis Sommer herbei. Während die Passanten in dicken Wintermänteln ihrer Bahn nachrennen, erwärmt sich Sergeij an seiner Musik.
Es sind nicht nur die bekannten Klassiker wie Vivaldi oder Mozart, die er in seinem Repertoire hat, sondern auch Lieder aus seiner alten russischen Heimat. In Moskau war er Musiklehrer. »Als ich nach Deutschland kam, gaben mir diese Melodien ein Gefühl der Sicherheit.«
Für viele Zuwanderer ist die Musik ein wichtiger, wenn nicht sogar der bestimmende Halt in der neuen Heimat. So trifft sich zum Beispiel in der Jüdischen Landesgemeinde von Thüringen regelmäßig eine kleine Seniorengruppe, um die Lieder »von damals« zu singen. Denn für die Senioren ist das Zusammensingen mehr als nur Freizeitvergnügen. Es ist das Gefühl, mit seiner Sprache und seinen Erinnerungen nicht ganz allein zu sein. Ihr Repertoire setzt sich komplett aus russischen Liedern zusammen.
Ein eher musikalisch gemischtes Programm hat der Chor der Israelitischen Religionsgemeinde zu Leipzig. Neben traditionellen jüdischen Liedern singt er ein breites Spektrum an nichtjüdischer und nichtreligiöser Musik. Auch hier sind die meisten Mitglieder Zuwanderer, die im gemeinsamen Musizieren eine Abwechselung zum Alltag finden. Besonders stolz ist der Chor auf seine Auftritte zu offiziellen Terminen, wie etwa einer Stolperstein-Setzung. Denn diese Auftritte haben dem Chor nicht nur ein neues Selbstbewusstsein gegeben, sondern ihn auch außerhalb der Gemeinde bekannt gemacht.
Seit acht Jahren tritt der Chor der Düsseldorfer Gemeinde unter dem Namen »Scholem Alejchem« auf – und das nicht nur zu Festtagen oder Veranstaltungen der Gemeinde. Die 40 Chormitglieder waren auch schon bei evangelischen oder katholischen Einrichtungen zu Gast. Angeleitet werden die Sänger von Rozaliya Chofistova, einer ausgebildeten Fachchormeisterin. Wenn Scholem Alejchem probt, treffen russische auf deutsche und jiddische auf traditionelle religiöse Gesänge. In der Mixtur der verschiedenen Stilrichtungen und Sprachen kommen sich auch die meist älteren Sänger näher.
Am Klavier begleitet die 20-jährige Mariana Brodskaya den Chor. Sie studiert an der Universität Düsseldorf Musik und kam auf eher ungewöhnliche Weise zu Scholem Alejchem. Um sich für die Aufnahmeprüfung an der Hochschule in Ruhe vorbereiten zu können, suchte sie einen passenden Platz zum Üben. Den fand sie in der Ge- meinde. Jetzt begleitet sie die Sänger schon seit mehreren Jahren. Sie empfindet die Zusammenarbeit mit den vorwiegend älteren Chorsängern als sehr interessant, denn sie sieht, wie positiv sich das gemeinsame Singen auf die Chormitglieder auswirkt. Viele von ihnen sind in der deutschen Sprache nicht zu Hause und fühlen sich vielleicht im Alltag etwas einsam sind. »Wenn wir uns dann am Abend proben ist es wie ein Treffen zum Feierabend«, sagt Mariana. Privat hört sie Musik von Rhythm ‹n’ Blues über Rockmusik bis hin zu poppigeren Sachen fast alles. Doch das eher klassische Programm des Chores bedeutet für die 20-Jährige ein Stück Heimat.
Den Synagogalchor in Dresden gibt es in der heutigen Form seit den Wendejahren. Er ging aus dem bekannten Leipziger Synagogalchor hervor, der sich schon zu DDR-Zeiten einen Namen über die Landesgrenzen hinweg gemacht hatte. An der Spitze des reinen Frauenensembles steht Leiterin Ursula Philipp-Drescher. Seit fast 40 Jahren ist sie dabei und veränderte Ende der 80er-Jahre die Chorarbeit, so dass der Chor nicht nur zu Gottesdiensten sang, sondern auch eigenständig Konzerte gab. Diese Neubestimmung war ein wichtiger Schritt für das Gemeinschaftsgefühl. Neben der Aufgabe, durch das Singen zu integrieren, ist es für Philpp-Drescher besonders wichtig, die Chormitglieder an die Religion heranzuführen. »In unserem Repertoire haben wir die Großen der Synagogalmusik, wie Lewandowski.« Damit verbindet sie auch hohe Ansprüche an die Sängerinnen. In diesem Chor gibt es keine, die nicht schon eine musikalische Vorbildung genossen hat oder ein Instrument spielt. Zwei Drittel der Mitglieder sind Zuwanderinnen. In der gemeinsamen musikalischen Arbeit sieht die Chorleiterin eine Chance der Integration, denn »Musik ist ein wichtiger Träger von Emotionen«.
Gefühl ist gar kein Ausdruck. Die 15-jährige Miriam Abramovich aus Stuttgart lebt ihre Musik. Seit fast elf Jahren spielt sie Geige und hat schon mehrere Male erfolgreich an »Jugend musiziert« teilgenommen. Ein Tag ohne Musik ist für sie unvorstellbar. Zwar hört Miriam auch Rock- und Popmusik, doch ihr Herz gehört der Klassik, »denn dort muss man aufpassen und genau hinhören, während die andere Musik so nebenher läuft.«
Die Schülerin kam schon früh durch ihren Vater, einem Violinisten, mit klassischer Musik in Berührung und wünscht sich, dass gerade junge jüdische Musiker, die vielleicht nicht immer die finanziellen Möglichkeiten haben, ihr Hobby auszuüben, unterstützt werden. Für Miriam steht die musikalische Zukunft offen. »Klar will ich mal Musik studieren«, sagt sie selbstbewusst. Denn die ist ihr Zuhause. Und das verbindet Miriam mit vielen anderen Zuwanderern. Auch wenn die alte Heimat schon weit entfernt ist.