von Tobias Kaufmann
Auf manche Rekorde könnte man getrost verzichten. Der Rekord bei der Zahl der rechtsextremistisch motivierten Straftaten in Deutschland fällt unter diese Kategorie. Obwohl der Strafverfolgungsdruck in den vergangenen Jahren eher gestiegen als gesunken ist, klettern die Zahlen. Gerade bei jenen Delikten, die mehr sind als nur eine Hakenkreuzschmiererei auf einem Garagentor, ist der Trend alarmierend: Die Zahl der »rechtsextremistisch motivierten Straftaten mit fremdenfeindlichem Hintergrund«, wie es in der Fachsprache des Bundesinnenministeriums heißt, war 2006 um ein Drittel höher als 2005. Die Zahl der Gewalttaten aus diesem Bereich stieg um 37 Prozent (vgl. S. 2).
Ausgerechnet im Jahr der Fußball-WM, in dem die Welt sich bei Freunden zu Gast fühlen sollte, ist Deutschland also noch einmal ein bisschen ungemütlicher geworden für Fremde, für Minderheiten – und damit auch für Juden. Sie waren, sind und bleiben eine der klassischen Opfergruppen rechtsextremer Kriminalität.
Fast 1.700 Straftaten mit antisemitischem Hintergrund gab es 2006, zwanzig weniger als 2005. Deutlich gestiegen ist im gleichen Zeitraum aber die Zahl judenfeindlich motivierter Delikte, die von jungen Muslimen verübt wurden. Auf den ersten Blick wirkt das grotesk. Betonen nicht jüdische und türkische Verbände stets ihre Gemeinsamkeiten? Sogar das fragwürdige Konstrukt der »Islamophobie« – einer sich spezifisch gegen Muslime richtenden Abneigung, die kein gewöhnlicher Fremdenhass ist – wird vom Zentralrat der Juden in Deutschland anerkannt und wortreich bekämpft. »Wir sit- zen in einem Boot, wir haben den selben Feind« lautet die Botschaft. Sie kommt aber nicht überall an. 88 Fälle von antisemitischer Gewalt, Volksverhetzung und Graffiti durch muslimische Täter weist die Kriminalstatistik aus. Das klingt wenig. Verglichen mit den 33 Fällen im Jahr 2005 ist es aber viel. Der Nahost-Konflikt beeinflusst auch »deutsche Zustände«. Auf der Straße ist die akademische Unterscheidung zwischen Wut über Israel und Hass auf Juden nicht mehr relevant.
Zwar ist die immer mal wieder befürchtete »große antisemitische Koalition« von Islamisten und Neonazis in Deutschland nach wie vor nicht in Sicht. Das liegt aber nicht daran, dass sich die Ideologien der Kader beider Bewegungen stark unterscheiden würden, im Gegenteil. Juden sind die perfekte Zielscheibe von modernisierungsfeindlichen Ressentiments – in einem Klima, in dem sich die politische Propaganda von rechts- und linksextremen »Antiimperialisten« sowie islamischen »Revolutionären« weitgehend ähnelt. Doch der dumpfe Rassismus des gemeinen Rechtsradikalen in der deutschen Provinz macht eine wirkliche Allianz mit Dunkelhäutigen unmöglich – und seien sie noch so antisemitisch.
Die neue Tätergruppe wächst neben und unabhängig von den Neonazis heran: muslimische Jugendliche aus bildungsfernen Elternhäusern, in denen antisemitische Verschwörungstheorien via Satellit über die TV-Bildschirme flimmern und jede vernunftgesteuerte Erkenntnisfähigkeit verdrängen. Weder die jüdische Minderheit als Betroffene noch die deutsche Mehrheitsgesellschaft tun sich einen Gefallen damit, diese Realität auszublenden – sei es aus Angst oder aus multikultureller Borniertheit, nach der nicht sein kann, was nicht sein darf. Rassismus hat viele Gesichter. Auch ein unterprivilegiertes Migrantenkind kann ein veritabler Judenhasser werden. Diese unangenehme Erkenntnis zu akzeptieren und mit Bildung, Erziehung und notfalls staatlicher Repression einzugreifen, solange die Zahl der Delikte noch weit von französischen Verhältnissen entfernt ist, wäre eine wichtige Lehre aus dem unerfreulichen Rekordjahr 2006.
Helfen kann dabei jener Nebenaspekt, der die einzige gute Seite der Statistik ist. Dass die erfassten Zahlen seit Jahren steigen, zeigt, dass die Bereitschaft von Bürgern und Behörden gestiegen ist, extremistischen und fremdenfeindlichen Gesetzes- bruch als solchen zu erkennen, anzuzeigen und zu verfolgen. Diesen Trend haben zumindest Teile jener Gemeinschaft, aus denen kriminelle Judenfeinde kommen, noch nicht verstanden. So wie der Vorsitzende der Palästinensischen Gemeinde in Berlin, Ahmad Muhaisen. Im ARD-Gespräch über antisemitische Straftaten von Muslimen fiel ihm nichts Besseres ein, als davor zu warnen, dass »die jüdische Gemeinde diese Thematik hochspielt«. Wenn er und andere verstünden, um was es geht, statt sich an die klassisch-peinlichen Ausflüchte ostdeutscher Kommunalpolitiker anzupassen, wäre »die Thematik« längst erledigt.
Tobias Kaufmann ist Politik-Redakteur beim Kölner Stadt-Anzeiger.