von Lev Krichevsky
Die Oktoberrevolution in Russland begann am 25. Oktober 1917 mit dem Sturm auf das Winterpalais, den ehemaligen Zarensitz in St. Petersburg. Das Signal zum Sturm gab der Panzerkreuzer »Aurora« mit einer Salve von Schüssen von der Bugkanone. Neunzig Jahre nach diesem welthistorischen Ereignis baut die jüdische Reformgemeinde der Stadt ihre Synagoge – unmittelbar neben dem Panzerschiff, das heute ein Museum ist.
Die Petersburger Shaarei-Shalom-Synagoge, die noch in diesem Jahr eingeweiht werden soll, ist die einzige Reformsynagoge auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion. Der Bau kostet zwei Millionen Dollar. Spender aus dem Ausland brachten das Geld auf, mit dem man ein Gebäude kaufte und nun umbaut.
Der 33-jährige Rabbiner Michael Farbman, jung und energiegeladen, führt die Besucher voller Stolz durch die zukünftige Synagoge. »Hier werden wir eine Bibliothek mit einer Empore haben«, sagt er beim Betreten eines riesigen leeren Saals, der demnächst in zwei große Räume geteilt werden soll. Die Wände sind nackt, und der unfertige Zementboden ist mit einer dicken Schicht Betonstaub bedeckt. Der Bauleiter fragt, ob die Arbeiter, die den Holzfußboden verlegen, eine Pause machen sollen wegen des Lärms, doch Farbman winkt ab: Sie sollen weiterarbeiten. Er will, dass die Synagoge so bald wie möglich fertig ist. »Da kommt das Büro des Rabbiners hin, und wir werden einen kleinen Laden einrichten. Und dort drüben wird der Aron HaKodesch stehen, der Toraschrein«, erklärt Farbman. Neben der Synagoge, der Bibliothek und Klassenräumen wird die Einrichtung auch einen Gemeinde-Kindergarten und einen Jugendklub beherbergen. Die obere Etage wird rollstuhlgerecht ausgebaut – in Russland eine Seltenheit.
OSOSIR, die russische Abteilung der World Union for Progressive Judaism, hat die etwa 465 Quadratmeter große Immobilie im vergangenen Jahr gekauft. Das Geld dafür stellte die West London Synagoge zur Verfügung, wo Farbman nach seiner Ordination fünf Jahre als Assistenzrabbiner gearbeitet hatte.
Die neue Synagoge befindet sich im Erdgeschoss eines großen Wohnkomplexes, der in der Stalinzeit für die sowjetische Admiralität errichtet wurde. Dadurch erklärt sich auch seine Nähe zum legendären Panzerkreuzer. In den Jahren nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion kauften viele Mieter ihre Wohnungen, etliche veräußerten sie weiter. Die Reformsynagoge und das Gemeindezentrum sind aus mehreren zusammengelegten Wohnungen entstanden.
Wenn alles nach Plan läuft, sagt Farbman, findet im Juni die Einweihungsfeier statt. Bis zum Ende des Jahres sollen alle Abteilungen der Einrichtung den Betrieb aufgenommen haben. Die Kosten von zwei Millionen Dollar entsprechen in etwa dem Zweijahresbudget der Reformbewegung für ganz Russland.
Shaarei Shalom hat 300 Mitglieder, ein winziger Bruchteil der jüdischen Bevölkerung der Stadt, die man auf 80.000 bis 100.000 Menschen schätzt. Farbman hofft, mit der neuen Synagoge seine Gemeinde bei den einheimischen Juden populär zu machen.
Rabbiner Alexander Lyskovoi, Leiter der Reformbewegung in Moskau, teilt die Hoffnungen. »In Petersburg handelt es sich um das bislang einzige erfolgreiche Projekt dieser Art in Russland«, meint er. Es gibt einige Dutzend Gemeinden der Bewegung in Russland, die Räume angemietet haben. Aber keine hat bis jetzt eine eigene Synagoge.
Oberste Priorität für die Reformbewegung in Russland hat Moskau: Die dortige Gemeinde braucht sechs bis acht Millionen Dollar für ein eigenes Gebäude. Bisher konnte die Bewegung nur einen Teil der Mittel für die Finanzierung eines Bethauses auftreiben.
In Sankt Petersburg scheint die Zukunft der Reformgemeinde dank der Großzügigkeit britischer Juden nun gesichert. »Ich bin sehr glücklich«, sagt Farbman. »Wir haben so viel Platz hier.« Sobald die Synagoge fertig ist, will er eine Gruppe von Studenten der benachbarten Nachimow-Ma- rineakademie, in der künftige Offiziere ausgebildet werden, einladen und sie durch seine Räume führen. »Wir laden sie zum Tee ein und zeigen ihnen, was eine Synagoge ist, alles, um ihnen klarzumachen, dass Juden keine so schlechten Menschen sind«, sagt der Rabbiner und lächelt.
Farbman ist die treibende Kraft hinter dem Synagogenbau, doch die Früchte seiner Arbeit wird er nicht mehr genießen können. Am 1. Juli endet sein dreijähriges Engagement für die World Union in Russland. Er wird in die Vereinigten Staaten übersiedeln, wohin einige Mitglieder seiner Familie bereits vor mehr als zehn Jahren ausgewandert sind. Er bewirbt sich um eine Rabbinerstelle an der Ostküste.
Farbmans Nachfolger wird der 30-jährige Stas Voitsekhovich, Absolvent des Hebrew Union College in Jerusalem. Auch die Moskauer Gemeinde erwartet demnächst einen neuen Rabbiner, nachdem Stelleninhaberin Nelly Shulman im vergangenen Herbst in eine Investmentfirma wechselte.
Für die Reformbewegung bedeutet dies eine nachhaltige personelle Veränderung. Denn sie hat in Russland, der Ukraine und Weißrussland insgesamt nur sechs Rabbiner. Farbman ist überzeugt, dass sechs Rabbiner für die ganze ehemalige Sowjetunion bei weitem nicht ausreichen. Er betont, dass die Reformbewegung für die Zukunft dieser Region klarere Visionen entwickeln muss. »Wir brauchen Emissäre, die sich noch mehr engagieren, um diesen hoch intellektuellen und gebildeten Menschen das durchdachte Modell einer zukünftigen Gemeinde nahe zu bringen.« Vieles sei erreicht worden, doch das Wachstum sei langsam. »Letztes Jahr haben wir in Petersburg 13 Pessachseder organisiert, dieses Jahr waren es schon 15«, sagt Farbman. »So gesehen, kann man sagen, dass wir wachsen.«