von Tobias Kühn
Nicht jeder kann alles. »Überlassen Sie es den Experten, über theologische Themen zu reden. Um mit Christen und Muslimen auf dieser Ebene zu sprechen, bedarf es einer großen und langen Ausbildung«, sagt Henry G. Brandt. Der Rabbiner ist ein solcher Experte. Er kennt die christliche Religion wie kaum ein anderer Jude hierzulande. Er ist der jüdische Präsident des Deut- schen Koordinierungsrates der Gesellschaften für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit. An diesem Montag hält er einen Vortrag vor rund 20 Geschäftsführern und Vor- sitzenden von jüdischen Gemeinden, die zu einem zweitägigen Seminar über den interreligiösen Dialog nach Berlin gekommen sind. Eingeladen dazu hat der Zentralrat der Juden in Deutschland.
»Wie viele von uns wissen schon Substantielles über Christentum und Islam?« fragt Brandt provozierend. Als ein Zuhörer antworten möchte, wirft der Rabbiner laut ein, die Frage sei doch nur eine rhetorische und fährt fort. Es sei an der Zeit, etwas mehr über andere Religionen zu lernen. »Dann können wir besser miteinander sprechen, und es dreht sich im interreligiösen Gespräch nicht alles immer nur um uns.« »Denn Synagogenführungen«, sagt Brandt, »sind kein Dialog.« Irritiert von den Worten des Rabbiners möchte eine Teilnehmerin wissen, worüber man denn sprechen solle im interreligiösen Dialog. »Über Gemeinsamkeiten«, schlägt Brandt vor – und vor allem darüber, was man gemeinsam tun könne. »Schließlich geht es doch um Tikkun Olam, die Verbesserung der Welt. Das haben wir mit den anderen gemeinsam.«
Die Vertreter aus den Gemeinden, die in ihren Städten zum Teil schon seit vielen Jahren im Gespräch sind mit Christen und Muslimen, verteidigen ihre Synagogenführungen. »Man sollte sie nicht herabsetzen. Schließlich sind sie eine gute Möglichkeit, Menschen zu treffen«, sagt eine Seminarteilnehmerin. Gerade bei den Führungen begegne sie immer wieder Menschen, die tatsächlich glaubten, das Gebot der Nächstenliebe sei ursprünglich christlich, erzählt sie. Auf diesen Fehler könne sie dann im Gespräch aufmerksam machen – manchmal mit Erfolg.
Auch Esther Haß, Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde Kassel, verteidigt ihre Synagogenführungen als geeignetes Element des interreligiösen Gesprächs. »Es ist nicht falsch, von Gebäuden auszugehen«, sagt sie. »Denn Gebäude sind unproblematisch, unverfänglich.« Die pensionierte Lehrerin macht in ihrer Gemeinde seit Jahren gute Erfahrungen mit Tagen der Offenen Tür. »Sie sind wunderbar, um erste Kontakte zu knüpfen«, schwärmt sie. Außerdem empfiehlt sie ihren Kollegen aus den anderen Gemeinden, auf Empfänge zu gehen, sei es zur Handwerkskammer oder zum Adventsempfang der evangelischen Kirche. »Auf dieser persönlichen, informellen Basis kommt man sehr gut ins Gespräch.« Rabbiner Henry G. Brandt nickt zustimmend. Jeder könne auf seiner Ebene etwas bewegen. »Das schlimmste ist, nichts zu tun.«
Der Rabbiner erzählt, daß er kürzlich vor einer Gruppe von hundert Imamen gesprochen habe. Die muslimischen Geistlichen wollten von ihm wissen, wie es den Juden gelungen sei, sich in die deutsche Gesellschaft zu integrieren.
Keine religiösen, sondern Alltags- und soziale Themen im Gespräch mit Vertretern anderer Religionen zu suchen, empfiehlt auch Doron Kiesel, Professor für Sozialwissenschaften an der Fachhochschule Erfurt. Der in Israel geborene Migrationspädagoge möchte das Gespräch zwischen den Religionen lieber als interkulturellen Dialog verstanden wissen. Menschen seien schließlich nicht nur Repräsentanten ihrer Reli- gion. »Das ist nur einer der Aspekte.« Kiesel warnt davor, Menschen eindimensional zu sehen. »Ich bin sauer, wenn mich jemand nur als Jude wahrnimmt. Ich möchte, daß er mich auch als Wissenschaftler sieht, oder als Israeli, oder als Autofahrer.«
Bevor man mit dem Dialog anfängt, sollte man das Terrain kennenlernen, empfiehlt Kiesel – er nennt dies »die religiöse Landschaft inspizieren«. Mehrfach betont der Sozialwissenschaftler, daß das interreligiöse Gespräch nicht per se schon gut sei. »Ich bin nicht für einen Dialog um jeden Preis.« Denn nicht jedes Gespräch diene dazu, den Horizont zu erweitern, gibt er zu bedenken. »Wenn ich mit einem Muslim zum Beispiel über Ismael reden möchte, wir aber im Gasastreifen landen, dann hat es keinen Sinn.« Es komme entscheidend auf die Themen an, über die man spricht. Kiesel warnt davor, Identitätsthemen in den Vordergrund zu stellen. Grundlegende Aspekte sollten nicht zur Diskussion stehen. »Das Existenzrecht des Staates Israel zum Beispiel halte ich nicht für gesprächsfähig.«
Kiesel schlägt vor, mit Muslimen darüber zu sprechen, wie man Religionsunterricht an Schulen etablieren könne. Sehr sinnvoll erscheint es ihm, jüdische Kinder in Moscheen und Kirchen zu führen und muslimische Schüler in eine Synagoge. »Das schärft den Sinn, den anderen wahrzunehmen«, sagt er. Die Teilnehmer nikken: Also doch Synagogenführungen.
Doron Kiesel ermuntert die Seminarteilnehmer, ein Netzwerk zum interreligiösen Dialog zu gründen. Dort könnte man sich miteinander beraten, Kompetenzen und Kontakte anderer Gemeinden nutzen und zum Beispiel auch einander Experten empfehlen. Denn: Nicht jeder kann alles. Aber es ist gut zu wissen, wer was kann.