von Rabbiner Joel Berger
Mit dem Wochenabschnitt Mischpatim gelangen wir an diesem Schabbat zur Zivilgesetzgebung der Tora. In den nächsten Kapiteln der Heiligen Schrift nehmen sowohl die Rechtsprechung wie auch die Verfahrensvorschriften der rabbinischen Gerichtshöfe einen Großteil der schriftlichen Deutungen ein.
Die Tora bekennt sich vor allem zum Schutz der Schwächeren in der Gesellschaft. Und sie verpflichtet jeden zum Beistand für Schutzlose, Fremde, sowie Witwen und Waisen, die im Altertum durch keine Familienunterstützung abgesichert waren. Die Tora regulierte vor allem die Wege der verbindlichen Hilfeleistungen. Niemand durfte durch eine Anleihe oder durch Pfändungen die Not der Schwächeren im Volke ausnützen. Daher die scheinbar strengen Regeln. Wenn jemand bei einem Darlehen einen Gegenstand des Schuldners als Pfand mitnahm, war er verpflichtet, diesen spätestens bis zum Sonnenuntergang zurückzugeben, wenn das Pfandstück zur Lebensführung unerlässlich war.
Und dennoch lernen wir einige Verse später, dass man den Armen vor Gericht keinen Vorteil oder keine Vergünstigung gewähren darf. Dies wäre eine Verletzung des Prinzips der Gerechtigkeit, wie diese in der Tora verstanden wurde. Die Wahrheit und Wahrhaftigkeit sollte über allem stehen. Der Richter sollte sich nicht von seinen Gefühlen leiten lassen. Es wäre falsch, zu denken, dass es nur für einen Armen fatal wäre, einen Prozess zu verlieren. Auch für besser Betuchte können die Folgen schwerwiegend sein.
Die Tora will dazu erziehen, Notleidenden zinslose Kredite zu gewähren. Wenn auch dieser Wille der Tora nicht bei jedem von uns fruchtet, ist die Wohltätigkeit die wichtigste charakteristische Eigenschaft unseres Volkes geworden. Der Talmud bewertet die »G’milut Chassadim«, das solidarische soziale Verhalten, wichtiger als die Gewährung von Almosen. Das Letztere gibt man den Ärmsten der Armen – oft zur Beruhigung des eigenen Gewissens. Das Erstere kann man auch denjenigen zukommen lassen, die vielleicht geschäftlich zu unseren Konkurrenten gehören, jedoch kurzweilig für das wirtschaftliche Überleben Hilfe benötigen. Auch diesen muss man gemäß der Tora unter die Arme greifen.
Die bitterste Ironie des jüdischen Schick-sals in Europa ist, dass die fremden-, und vor allem judenfeindliche Gesetzgebung der meisten Staaten im Mittelalter die Ju-den vom Handwerk, wie auch von der Landwirtschaft, fernhielt und sie in die Geldgeschäfte verbannte. Gerade die Juden, denen ihre eigene Tora selbst den leisesten Hauch einer Zinsnahme (Awkat Ribit) strengstens verboten hatte, wurden von ihrer Umwelt zu Zinsgeschäften gezwungen.
Um die Aufklärung in der Geschichte des angeblichen jüdischen Wuchers und Schachers hat sich der verstorbene Anglistik-Professor Dietrich Schwanitz bleiben-de Verdienste erworben. Sein Buch Das Shylock-Syndrom analysiert und behandelt die Figur des jüdischen Wucherers aus Shakespeares Drama Der Kaufmann von Venedig. Er stellt diesen dar, als des Hintergrund einer europäischen Zwangsvorstellung, die einer dramatischen Logik gehorcht. »Ahasver (der ›ewige Jude‹, der als Strafe nie Ruhe finden darf) und Shylock sind bis ins 19. Jahrhundert die einzig bedeutenden literarischen Figuren des Juden in der Diaspora. Derselbe Fluch lastet auf beiden: Er hat Shylock ins Ghetto gezwungen und Ahasver ins ewige Exil getrieben«. Beide Figuren sind nicht jüdische Konstruktionen, die erschaffen worden sind, um Juden grenzenlos hassen zu können.
Nach diesem Exkurs kehren wir zurück zu einem nicht weniger wichtigen und wohl aktuell scheinenden Hinweis an die Richter Israels: »Bestechung sollst du nicht annehmen, denn Bestechung blendet die Augen und verdreht die Worte der Gerechten« (2. Buch Moses, 23, 8). Es ist nicht in jedem Fall leicht und eindeutig zu erkennen, was noch als Gefälligkeit angesehen werden kann, was bereits als Vorteilnahme oder sogar Bestechung gilt. Nicht immer sind die Grenzen leicht zu ziehen. Und häufig ist es noch schwieriger, standhaft zu bleiben.
Von der jüdischen Praxis der rabbinischen Richter sind daher mehrere Lehrbeispiele und sogar Anekdoten überliefert worden, die uns nahe legen, wie vorsichtig der Richter mit dem leisesten Verdacht der Bestechung umgehen solle. Der Talmud erzählt von einem hilfsbereiten Menschen, der einmal einem Rabbiner über einen schmalen Steg geholfen hatte. Wenig später stand der Mann vor einem Bet Din (Gerichtshof) und damit auch vor dem Rabbiner, der dort als Richter tätig war. Daraufhin übertrug der Rabbiner den Fall einem anderen Kollegen. Er fühlte sich nicht mehr in der Lage, ein objektives Urteil zu fällen. Diese Vorsorge mag übertrieben erscheinen, jedoch könnte es nicht auszuschließen sein, dass dem Richter Parteinahme vorgeworfen werden könnte.
Noch umsichtiger wollte der bekannte Kutnaer Rabbiner Jeschaja jeden Verdacht vermeiden. Eine weinende Witwe suchte ihn auf und beklagte, dass ein Gemeindemitglied sie seelenlos betrogen hätte. Sie forderte, den Betrüger vor Gericht zu stellen. Der Kutnaer Rabbiner übertrug jedoch den Fall seinem Beisitzer. Er begründete seinen Schritt damit, dass eine Be-
stechung seiner Meinung nach nicht nur mit Geld oder Geschenken geschehen könne. Auch Tränen könnten eine Art Bestechung darstellen, insbesondere wenn sie aus den Augen einer unglücklichen Witwe flossen. Er fühlte sich als Richter in diesem Fall nicht mehr unparteiisch.
An diesem Schabbat werden in unseren Synagogen zwei Torarollen aus der Heilige Lade (Aron HaKodesch) geholt. Von der zweiten Rolle wird ein zusätzlicher Abschnitt aus dem 30. Kapitel des 2. Buches Moses vorgetragen. Diese Parascha beinhaltet die Verpflichtung unserer Vorfahren zur Abgabe des halben Schekel. Ein jeder aus dem Volk sollte dem Ewigen »ein Lösegeld für seine Person« entrichten. »Da-
mit sie kein Unheil« wegen der von Moses angeordneten Volkszählung treffe, lautet die Begründung der Tora. Allem Anschein nach wollte man vermeiden, lebendige Menschen, die im Ebenbild Gottes er-schaffen wurden, wie Dinge oder Vieh zu zählen.
Während der langen Geschichte der jüdischen Diaspora wurde aus der Abgabe des halben Schekels eine neue Form der Spende, als Sinnbild der menschlichen Hilfsbereitschaft und Wohltätigkeit.
Der bekannte Pressburger Rabbiner, der nach seinem Werk »Ketaw Sofer« genannt wurde, war der Meinung, dass die Tora uns Folgendes lehren will: Der Einzelne solle nie den Eindruck gewinnen, dass er seine sozialen Pflichten anderen gegenüber bereits vollständig und vollkommen erfüllt hätte. Wohltätigkeit und Hilfsbereitschaft gelten nie als ein abgeschlossenes Werk. Man muss immer wieder geben, weil man seine Pflichten Notleidenden gegenüber bestenfalls nur halb-
wegs erfüllen kann.
Dieser zusätzliche Abschnitt aus der zweiten Torarolle wird stets an diesem Schabbat vorgetragen, an dem wir den neuen Monat Adar ankündigen.
Mischpatim: 2. Buch Moses 21,1 bis 24,18