von Carsten Wilke
Vor 200 Jahren eröffnete eine deutsche Verfassung erstmals die Möglichkeit eines gleichberechtigten jüdischen Staatsbürgers. Es war die Verfassung des kurzlebigen Königreichs Westphalen, das Napoleons Bruder Jérôme von Kassel aus regierte: Am 15. November 1807 verkündete sie »die Gleichheit aller Unterthanen vor dem Gesetze, und die freie Ausübung des Gottesdienstes der verschiedenen Religions-Gesellschaften«. Westphalen gab seinen jüdischen Gemeinden 1808 eine einheitliche, zentrale Ordnung mit einem Konsistorium an der Spitze, in Nachahmung des Organisationsmodells, das im selben Jahr in Paris durch die Versammlung der jüdischen Notabeln und durch den Großen Sanhedrin beschlossen worden war.
Die Integration des Judentums in die kirchenpolitische Landschaft des modernen Staates hielt mit der rechtlichen Einbürgerung seiner Bekenner nicht gleichen Schritt, ja beide Entwicklungen waren über weite Strecken gegenläufig. Die Rechtsunmittelbarkeit des Bürgers im modernen Staat, eine Frucht der Französischen Revolution, erhob jeden einzelnen Juden aus jahrhundertealter erzwungener Randexistenz, löste ihn aber zugleich auch aus der Kehilla, der jüdischen Gemeinde.
Nachdem 1795 die Trennung von Religion und Staat in Frankreich eingeführt wurde, verlieh die restaurative Politik Napoleons der Religion eine neue politische Wertschätzung als »soziales Bindemittel«. Der Unterschied der neuen zur alten Kirchenpolitik bestand darin, dass sie keine Staatskirche mehr kannte. Gleich im Anschluss an das Konkordat mit dem Heiligen Stuhl 1801 regelte das Empire auch die Ordnung und Finanzierung des protestantischen Kultus. Allein die dritte Religion, die jüdische, ging leer aus. Jüdische Gemeindevertreter und Rabbiner beklagten, dass der Staat ihre Institutionen damit dem Zerfall überlasse. Im Januar 1806 legten Pariser jüdische Vertreter einen Organisationsplan vor, der für Synagogen, Rabbinat und theologische Seminare denselben staatlichen Schutz vorsah, wie ihn die Kirchen nach dem Konkordat genossen.
Für Napoleon bildeten die Juden einen »Staat im Staat« – ein Schreckbild analog zur heutigen »Parallelgesellschaft«. Sein Dekret vom 30. Mai 1806 über die politische Reform des Judentums enthält zwei widersprüchliche Teile. Auf der einen Seite verfügte der Kaiser Ausnahmebeschränkungen gegen den Kredithandel der Juden. Im selben Dekret aber beschloss er, den Juden eine präzedenzlose staatliche Hilfe bei der Einrichtung ihrer inneren religiösen Autorität zu geben.
Für Napoleon bestand kein Widerspruch. Beides, die zeitweilige Beschränkung der jüdischen Rechte und die zentrale Organisation, sah er im Dienst eines Ordnungs- und Erziehungsprogramms, das er mit dem Schlagwort der »Wiederherstellung« (régénération) des Judentums benannte. Weder die Feinde noch die Verteidiger der Juden, sondern die Juden selbst wollte Napoleon darüber befragen, »ob ihre Religion es ihnen wirklich erlaube, den Rang des Bürgers in einem Land einzunehmen, wo man ihnen solches einräumen will, und ob diese Religion nicht etwa Vorschriften beinhalte, die ihre völlige Unterwerfung unter die Gesetze nicht verhindere oder zumindest sehr erschwere«.
Eine Versammlung »aufgeklärter« jüdischer Vertreter aus dem gesamten Empire sollte dem Judentum ein neues Format und den Erziehungsgesetzen des Monarchen den Anschein einer freien Zustimmung geben. 111 von den Präfekten bestimmte »Notabeln« waren bei der am 26. Juli 1806 in Paris eröffneten Zusammenkunft anwesend. Nur 16 von ihnen gehörten dem Rabbinat an; die modernistische Richtung hatte eine klare Mehrheit. Napoleons Regie- rung befragte die Notabeln zu zwölf Verdachtsmomenten gegen die Integrationsfähigkeit der Juden: Hielten diese nicht an einer separaten göttlichen Rechtsordnung fest, mit besonderem Eherecht und eigener Gerichtsbarkeit? Betrachteten sie nicht Zion als ihr eigentliches Vaterland? Hielten nicht religiöse Vorschriften sie vom brüderlichen Umgang und der Ehe mit Franzosen ab? Waren nicht Wucher und Übervorteilung von Nichtjuden talmudisch gestattet? Die Notabeln gaben zwar patriotische Erklärungen ab, doch ging ihre Haltung nicht bis zur Unterwürfigkeit. Die polemische Gegenüberstellung von »Juden« und »Franzosen« in den Fragen korrigierten sie, indem sie durchweg von jüdischen und christlichen Franzosen sprachen.
Napoleon war sich bewusst, dass die aufgeklärten jüdischen Notabeln keinen Anspruch auf religiöse Autorität erheben konnten. Daher befahl er im August, den höchsten Gerichtshof der antiken Juden, den »Großen Sanhedrin«, wieder einzuberufen, um das Loyalitätsbekenntnis der Notabeln zu prüfen. Der Sanhedrin wurde im Februar traditionsgemäß mit 71 Mitgliedern besetzt, von denen diesmal die Mehrheit, nämlich 45, Rabbiner waren.
Auf die symbolischen Details des Geschehens verwendete Napoleon große Mühe. Ein Regiment hatte beim Eintritt der Abgeordneten Spalier zu stehen. Die feierliche Amtstracht der Abgeordneten schloss erstmals das weiße Beffchen ein, das Generationen moderner Rabbiner übernehmen sollten. Die Delegierten des Sanhedrin verhandelten öffentlich, im Halbkreis wie einst im Tempel.
In diesen Wochen des Jahres 1807 erfand sich das moderne europäische Judentum eine Tradition, der die beiden Pariser Versammlungen auch den zentralen politischen Kampfbegriff lieferten. Anstelle des verachteten talmudischen »Juden« bezeichnete nun der ehrwürdige biblische »Israelit« den kulturell angepassten, patriotischen jüdischen Staatsbürger. In den am 8. März verabschiedeten »Lehrbeschlüssen« begründeten die Rabbiner die Unterscheidung zwischen politischen und religiösen Geboten mit der talmudischen Maxime Dina de-malchuta dina, »Das Recht der Obrigkeit gilt als jüdisches Recht«. Mit klugen Formulierungen gelang es dem Vorsitzenden, dem Straßburger Rabbiner Joseph David Sintzheim, zugleich der Halacha und dem Landesgesetz Treue auszudrücken.
Die Notabeln entwarfen eine Ordnung, die nach protestantischem Vorbild Rabbiner und Laien gemeinsame geistliche Gremien, Konsistorien, bilden lassen sollte. Der Entwurf ging mit wenigen Änderungen in das Dekret von 1808 ein, mit dem das Staatskirchenrecht erstmals die Organisation und Rechte der jüdischen Religionsgemeinschaft parallel zur christlichen entwarf. Der Kultus der Juden unter- stand einem Zentralkonsistorium und 13 regionalen Konsistorien, von denen sechs in den annektierten deutschen und italienischen Gebieten lagen.
Das französische System zeichnete sich, mit den Worten des Judaisten Jay Berkovits, durch eine »an Obsession grenzende Bestrebung nach Einheit« aus. Frankreich stand in dieser Hinsicht in scharfem Kontrast zu den meisten anderen Staaten Europas. Preußen zum Beispiel erkannte zwar die Gemeinden als öffentlich-rechtliche Korporationen an, behandelte aber die Rabbiner als Angestellte nach privatem Recht. Leistung der französischen Konsistorien war die Institutionalisierung der jüdischen Präsenz im Staat; sie garantierten dem Staat die Loyalität der jüdischen Gemeinden, diesen dafür Rechtssicherheit und öffentliche Anerkennung. Die Reformerwartungen, die das System geweckt hatte, wurden allerdings nicht bestätigt. Weil sie intern Kompromisse vertreten mussten und nach außen politische Macht genossen, verfolgten die Konsistorien einen konservativeren Kurs als die jüdischen Vertretungen in Mitteleuropa. Während das französische Judentum durch politische Organe agieren konnte, war das mitteleuropäische in seiner mangelnden öffentlichen Akzeptanz zur wissenschaftlich-theologischen Selbstdarstellung genötigt. Gerade dies führte zu geistiger Beweglichkeit. Unter einem Konsistorium wären Denker wie Abraham Geiger oder Samson Raphael Hirsch im Rabbinat wahrscheinlich nicht weit gekommen.
Der Autor ist Mitarbeiter am Steinheim-Institut für deutsch-jüdische Geschichte an der Universität Duisburg-Essen.