Behinderte

Raus aus der Nische

von Annette Wollenhaupt

Regen fällt auf die Dächer und Straßen im Kurstädtchen Bad Kissingen. Es ist kühl, doch im Kurheim Eden Park der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland (ZWSt) ist an diesem Freitag menschliche Wärme zu Hause. Mütter und Väter mit ihren behinderten Kindern sitzen im Kreis, singen, tanzen und hören mit großer Aufmerksamkeit den Referaten und Erklärungen zu Jom Jeruschalajim zu, dem Jerusalemtag.
»Jeruschalajim ist das Herz unseres Staates Israel und die Seele unseres Volkes«, sagt Tirza Hodes. Vor allem beim Tanzen ist die 83jährige temperamentvolle Frau in ihrem Element. 35 Jahre lang leitete sie in Israel als Gewerkschafterin die Abteilung für Folklore. Für die Feier des Jerusalemtages hat die Israelin auf Deutschlandbesuch Texte zum Sechs-Tage-Krieg und Lieder über Jerusalem zusammengetragen. Einstudiert hat sie ihr »Drehbuch« zum Fest gemeinsam mit einigen Eltern und deren behinderten Kindern. Maschgiach Jitzchak Nagel gibt begleitend alle wichtigen Informationen zur Tradition des Jom Jeruschalajim. An den Wänden hängen Bilder, die unter Anleitung von Costa Bernstein und Rina Nentwig entstanden sind. Jerusalems Stadtmauer bildet die Kulisse – von den Teilnehmern des Treffens gebaut und bemalt. Geschirr klappert, Angestellte des Kurheims bereiten in der Küche das große Schabbatessen vor. Es gibt Gefilte Fisch mit hausgemachter Craijn und als Hauptgang gebratenes Hähnchen, Kartoffelkigl und Schabbesgemüse.
Michael Bader, Gründer und Vorstandsmitglied des Down-Syndrom-Netzwerkes in Deutschland und Leiter des Treffens, tritt vor, spricht von einem »historischen Ereignis«, dem »ersten Treffen für Menschen mit Behinderung nach der Schoa«. Eine junge Frau übersetzt ins Russische. Bader erwähnt das Gästebuch im Teezimmer, in das man sich doch eintragen möge. Mit Meinungen, Ideen, Gedanken. Wieder wird getanzt und gesungen. Danach ist Pause. Zeit zum Gespräch. Bevor, noch vor dem Essen, Maschgiach Jitzchak Nagel über die Bedeutung des Schabbats für die Familie sprechen wird.
Valery Gladilin sitzt mit seinem Sohn Anton zusammen. 1999 kamen der verwitwete Journalist und sein Sohn aus Moskau ins Rheinland. Wenn Valery Gladilin erzählt, beobachtet Anton ihn sehr genau. Die Stirn des 33jährigen, der große Ähnlichkeit mit Regisseur Dani Levi hat, legt sich dann in feine Falten. Anton hat Epilepsie, er selbst nennt es »das Zittern«. Ein Zittern, das immer dann kommt, wenn er Streß hat oder »das Wetter schlecht ist«. Auch wenn Anton behauptet »Ich bin ohne Gott«, haben doch etliche Elemente des Judentums für ihn Bedeutung. Die jüdischen Lieder etwa, sie gefallen ihm, sein Vater singt sie auf Russisch.
Für Valery Gladilin ist das Treffen mit anderen Eltern und ihren Kindern wichtig. »Vorher dachte ich, wir sind ganz alleine, keiner hat geholfen, was die Sprache und was meinen Sohn betrifft.« Valery Gladilin sagt einen schlichten, zugleich wichtigen Satz, den so oder ähnlich auch viele andere Teilnehmer des Treffens für sich formulieren könnten: »Ich bin jetzt nicht mehr einsam!«
Am Nachbartisch sitzt Maria Guekhtina mit ihrer Tochter Rimma. Die 16jährige hat, weil ihre Geburt äußerst kompliziert war, eine sehr starke Spastik in den Beinen und eine sogenannte geistige Behinderung. Steht Rimma auf, möchte sie sich etwa einem anderen Menschen nähern, steht automatisch auch ihre Mutter auf, stützt sie von hinten, schiebt sie sachte – beide Hände an Rimmas Hüften – vorwärts. Das Treffen im Kurheim Eden Park sei vor allem für ihre Tochter sehr wichtig, sagt Maria Guekhtina. »Sie braucht Gesellschaft, viele Leute.« Rimma habe sich zuvor »ganz einsam gefühlt«. Die jüdische Tradition sei der Familie wichtig, Maria Guekhtina wünscht sich für ihre Tochter »mehr Kontakt zu anderen jüdischen Kindern«. Zu Hause in Recklinghausen hören sie oft jüdische Musik. »Rimma erkennt sie von ganz alleine, und dann beginnt sie zu tanzen«, sagt die Mutter.
»Die haben hier ein Superprogramm«, ruft Naomi Nägele, deren gelb-grünes Brasilien-T-Shirt einen bunten Farbklecks bildet. »Ich stehe auf hebräische Lieder«, sagt die 23jährige mit Down-Syndrom. Außerdem habe sie gleich zwei Freunde gefunden: Vasili und Rimma. Mit Vasili ist Naomi geschwommen. Am Vormittag, im städtischen Schwimmbad von Bad Kissingen.
Naomi kann Hebräisch. »Perfekt«, wie Michael Bader meint. Gelernt hat sie es von Mutter und Tante. Selbstbewußt und mit stürmischem Temperament holt die junge Frau ein Faltblatt hervor, es wirbt für jenes kleine, familiär geführte Hotel, in dem Naomi Nägele als Zimmermädchen arbeitet.
Einen Tag später, am Schabbat, ist Gottesdienst. Menschen mit Behinderung werden zur Tora aufgerufen, ihre Mütter weinen. »In vier Tagen ist ein sehr stark jüdisch geprägtes Zusammengehörigkeitsgefühl entstanden«, sagt Projektleiter Bader. Für ihn waren vor allem jene Momente berührend, in denen »Menschen mit Autismus, mit einer sogenannten geistigen Behinderung oder psychischen Erkrankung so ermutigt waren, daß sie vor allen Anwesenden sangen, Fragen stellten, sich zu Wort meldeten.«
Wegen der großen positiven Resonanz möchte die ZWSt noch in diesem Herbst möglichst zwei einwöchige Treffen für Menschen mit Behinderung und ihre Angehörigen auf die Beine stellen. Weitere Veranstaltungen sollen folgen. Höhepunkt im kommenden Jahr wird eine gemeinsame Reise nach Israel sein.

Weitere Informationen geben Michael Bader, Telefon 0163/ 701 96 37, Dinah Kohan, Telefon 0163/ 63 25 81, Paulette Weber, Leiterin des ZWSt-Sozialreferats, Telefon 069/ 94 43 71 31, und (in russischer Sprache) Felix Krasny, Telefon 069/ 94 43 71 32.

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