Rückschau und Ausblick, Erinnerung und Leben – das waren die Pole der Ansprachen beim Neujahrsempfang für die Mitglieder der IKG im Hubert-Burda-Saal. Die Verbindung zu Israel machten zwei an die Wände projektierte Städtepanoramen deutlich: Jerusalem als »religiöses Herz« und Tel Aviv als »kulturelle Seele«, wie es Moderator Guy Fränkel formulierte. Ralph Giordano hatte seine Festrede unter das Motto »Deutschland – Israel – Holocaust« gestellt, eine »Zwischenbilanz, in der die Fragestellung Deutscher Jude, jüdischer Deutscher, Jude in Deutschland?« eine Rolle spielte. Giordano sprach von einem »rätselhaften Deutschland«, von einem »Hort der Gegensätzlichkeiten«: Gleichzeitig mit einem Antisemitismus habe sich in der Weimarer Republik die Integration der deutschen Juden bis hinein in ein tiefes Vaterlandsbewusstsein vollzogen. Sein Vertrauen in dieses Land wurde erstmals tief erschüttert als mit Schuljahresbeginn 1933 am Hamburger Johanneum mit »Hie Arier, hie Nichtarier« die Gymnasiasten getrennt wurden und ganz besonders, als ihm sein bis dahin bester Freund zwei Jahre später sagte: »Ralle, mit dir spielen wir nicht mehr, du bist Jude!«
Gründe Dafür, dass er nach 1945 in Deutschland blieb, nannte Giordano drei Gründe. Der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus wäre er nirgendwo entkommen. So war eine Flucht »nicht vereinbar mit meiner inneren Beziehung zu denen, die nicht überlebt hatten und die mein Kompass, meine Charta waren und sind: die Toten des Holocaust«. Der zweite Grund war die deutsche Sprache, »Humus« seines Lebens. Und schließlich habe sich drittens eine »neue Zugehörigkeit« entwickelt, verbunden mit der Erkenntnis, »dass es Millionen von Deutschen gab, die in den elementaren Grundfragen – Humanität und ihre Unteilbarkeit, Demokratie und Menschenrechte – mit mir übereinstimmten«. Als was aber fühlt er sich nun? Als deutscher Jude, jüdischer Deutscher oder Jude in Deutschland? Seine Antwort: als »deutscher Jude – mit der Lackmusschicht eines früh versehrten Zugehörigkeitsgefühls«. Wer hier lebt, werde aber auf Licht und Schatten stoßen – von einer Kanzlerin mit einer integrierten Beziehung zur jüdischen Gemeinschaft bis hin zu rechter Gewalt und Antisemitismus. Giordano kam auch auf Israel und die Kritik an diesem Staat zu sprechen sowie auf seine Verbundenheit mit diesem Land. Sein Motto: »Auschwitz nie vergessen – und das Leben preisen! Das Leben preisen – und Auschwitz nie vergessen!«
Kraft Präsidentin Charlotte Knobloch hatte in ihrer Rede Rückblick und Ausblick verbunden. Als Botschaft gab sie den Gemeindemitgliedern mit auf den Weg, »dass wir mit vereinten Kräften vieles bewältigen können – auch in schwierigen Zeiten«. In diesem Sinne dankte sie allen, die sich als Mitarbeiter und als Ehrenamtliche für die jüdische Gemeinschaft einsetzen. Und sie sprach die Zuwanderer an, die »unsere Gemeinschaft belebt und mit ihrer angestammten Kultur bereichert« haben: »Sie sind ein Garant für den Fortbestand unserer jüdischen Gemeinde.« Ihr Dank galt den Vertretern der Politik, die zum Entstehen des Münchner Gemeindezentrums beigetragen haben. Dessen Einweihung bewusst an einem 9. November, dem Tag der Pogrome von 1938, ist Zeichen für Erinnerung und Kontinuität. Dieser Tag falle in diesem Jahr mit 20 Jahren Mauerfall zusammen. Daher bedürfe es eines angemessenen Umgangs mit beiden Ereignisse, mahnte Knobloch. Sie erinnerte an die positiven Ereignisse des vergangenen Jahres, vom Besuch der Bundespräsidenten-Gattin Eva Luise Köhler bis zur Ordinierung der ersten beiden in Deutschland seit 1938 ausgebildeten orthodoxen Rabbiner in der Ohel-Jakob-Synagoge. Charlotte Knobloch gedachte voller Hochachtung an den Geschäftsmann, den kürzlich seine Zivilcourage das Leben gekostet hatte. Sie warnte vor den Gefahren des Neonazismus, Antisemitismus und Rassismus und äußerte ihr Unverständnis über die Verleihung des Bundesverdienstkreuzes an eine fanatische Israel-Gegnerin. Sie baue darauf, »dass auch die neue Bundesregierung zur deutschen Staatsräson gegenüber Erez Israel und zur Verantwortung gegenüber dem jüdischen Volk« stehen werde. Gleichzeitig appellierte sie, am 27. September zur Wahl zu gehen: »Nichtwähler überlasen ihre Stimme anderen, auch den Rechtsextremisten.«
Schana Tova Ihre Wünsche für ein gutes Jahr 5770 mit Frieden für Israel verband sie mit einem Anliegen: »Ich möchte sie alle dazu ermutigen, sich auch künftig für eine Festigung des Judentums in der Gesellschaft und für eine Weiterentwicklung unserer Gemeinde zu engagieren.« Nach einem kurzen Grußwort von Rabbiner Steven Langnas starteten die Münchner Gemeindemitglieder dann bei Musik, Tanz und Einlagen verschiedener Gruppen aus der Gemeinde sowie einem Flying Buffet und vielen persönlichen Gesprächen ins neue Jahr.