Erfurt

Radio, Reisen, Reaktionen

von Markus Stelle

Sein mobiles Tonstudio hat Lutz Balzer schnell aufgebaut. Aufnahmegerät, Laptop, Boxen. Einmal im Monat produziert er »Radio Shalom«. Die Sendung rund um jüdische Kultur läuft im Offenen Rundfunk-Kanal für Erfurt und Weimar. Das Programm für den nächsten Monat steht fest. Der Bundesverband Jüdischer Studenten in Deutschland (BJSD) stellt sich vor.
Zwanzig Studierende sind für eine Woche in die Thüringer Landeshauptstadt gekommen. Heute, am dritten Tag, wollen sie eine Radiosendung gestalten. Kurze Beiträge haben sie schon vorbereitet. Natalie aus Essen und Elena aus Köln berichten von einer Reise nach Israel. Alexander Itskov, der Vorsitzende des BJSD, lässt sich von seinem Stuttgarter Kollegen Roman interviewen. Fragen und Antworten sind auf einem Zettel vorbereitet. Alexander ist aufgeregt. »Mein erster Radioauftritt«, sagt er und lächelt verlegen. Dann singt Nina, die Jurastudentin aus Bremen, ein Lied. Für die Zuhörer hat sie einen Klassiker des israelischen Sängers Arik Einstein ausgewählt. »Ani ve’ata« – Du und ich, wir werden die Welt verändern.
Die Welt verändern, verbessern, um nicht weniger geht es den Studenten hier im jüdischen Gemeindezentrum. In vielen Ländern haben sich jüdische Jugendverbände »Tikkun Olam« diesen Spruch auf die Fahnen geheftet. Vor zwei Jahren nahm auch der BJSD das Motto auf, organisiert einmal im Jahr eine Fahrt in eine jüdische Gemeinde. Erst nach Riga, dann nach Prag. Nun also Erfurt. »Warum sollen wir ins Ausland fahren, wenn es auch in Deutschland noch viel zu tun gibt«, fragte Alexander Itskov, als er im vergangenen Jahr zum Vorsitzenden des Bundesverbandes gewählt wurde.
Seine Mitglieder scheinen ihn zu bestätigen. Das Tikkun-Olam-Seminar ist auf 20 Teilnehmer beschränkt. Anmeldungen gab es weit mehr. »Wir hätten ohne Probleme zwei Seminare füllen können. Vielleicht machen wir das im nächsten Jahr«, überlegt Alexander Itskov. Am 2. September reisten sie an, um zu helfen.
Wie aber kann man helfen, hier in Erfurt? Augenscheinlich floriert das jüdische Leben. Der überwiegende Teil der 758 Mitglieder der Landesgemeinde wohnt in der Landeshauptstadt. Fast alle sind Zuwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion. Es gibt ein großes modernes Gemeindezentrum mit mehreren Sälen, mit Computerarbeitsplätzen im Seminarraum, in dem regelmäßig Religionsunterricht stattfindet. Die Synagoge, nur wenige Meter entfernt, ist gut in Schuss. Sie wurde in den 80er-Jahren renoviert.
In der Altstadt finden sich viele Zeugnisse jüdischen Lebens. Die alte Synagoge aus dem 13. Jahrhundert wird gerade restauriert, die sogenannte Kleine Synagoge wurde zur Begegnungsstätte ausgebaut. Vor Kurzem entdeckten Archäologen die Reste einer mittelalterlichen Mikwe, eines jüdischen Ritualbades, direkt neben der Krämerbrücke, ein Touristenmagnet der Stadt.
Für den BJSD aber ist Thüringen Niemandsland. Einen Landesverband gibt es hier nicht. Natürlich gibt es jüdische Studenten an den Hochschulen in Erfurt und Ilmenau, in Weimar und Jena. Doch der Altersdurchschnitt in der Gemeinde ist ausgesprochen hoch. Gerade einmal 15, 16 Kinder und Jugendliche treffen sich regelmäßig. Viele gehen weg, sobald sie ihren Schulabschluss in der Tasche haben. Auch Emilia Flihler ist gegangen, sie studiert in Jena. Lange hat sie sich für das Jugendzentrum engagiert. Jetzt fehlt ihr die Zeit und, wie sie sagt, der Rückhalt in der Gemeinde. Man merkt ihr an, dass sie froh ist über den Besuch der Studenten. »Vielleicht können wir hier ja auch einen Landesverband auf die Beine stellen«, meint die 20-Jährige. Deshalb kommt sie heute auch extra zum Treffen der Seniorengruppe.
Während Lutz Balzer, der Radiomann, noch auf Ruhe für die letzten Tonaufnahmen hofft, schnurrt draußen fast pausenlos der Türöffner. Die Senioren treffen nach und nach im Gemeindezentrum ein. Dass die Studenten da sind, hat sich längst herumgesprochen. In der Seniorengruppe gibt es keinen Mitgliedermangel. Seit zehn Jahren trifft sie sich regelmäßig. Heute werden Gedichte vorgetragen, wird gesungen und getanzt. Ein kleines Kulturprogramm haben sie immer parat.
Die Senioren erhoffen sich eine Gegenleistung. Verwirrung unter den jungen Studenten. Das war nicht abgesprochen. Dann stellen sie kurzerhand doch noch einen Chor zusammen. Pavel kennt einige Gedichte. Ein Vortrag folgt, eine musikalische Reise durch die Geschichte Israels. Einige Senioren wippen angeregt mit, als hebräischer Hip-Hop aus den Boxen des mitgebrachten Laptop hämmert. Dann wird getanzt, Jung und Alt zusammen. Bella Shadkhen, eine resolute ältere Dame, meldet sich zu Wort: »Wir sind sehr froh, dass die Studenten hierhergekommen sind, sie erzählen uns so viel Neues über die Politik und das Leben der Jugendlichen.« Pavel, der Jurastudent aus Bochum, übersetzt.
Am nächsten Tag sind fast alle Senioren wieder da. Die Studenten halten Vorträge über das Olympia-Attentat in München 1972 und über die deutsch-israelischen Beziehungen. Tobias aus Frankfurt und Orly aus Konstanz haben es sich derweil auf einer Sitzgruppe im Vorraum gemütlich gemacht. Sie sind die Einzigen im Seminar, die kein Russisch können. Und drinnen im Saal wird es ausschließlich gesprochen. Fast haben sie sich daran gewöhnt, bei den Verbandstreffen nichts zu verstehen. »Manchmal macht es einen aber auch wütend«, sagt Tobias müde.
Auch das Seminar hatte er sich anders vorgestellt. Es gibt ein dichtes Ausflugsprogramm mit Stadtführungen in Erfurt und Weimar, einem Besuch der Jenaer Filialgemeinde und des ehemaligen Konzentrationslagers Buchenwald. »Aber wie wir hier helfen sollen, das verstehe ich nicht. Singen und tanzen für die Senioren?« Vor einem Jahr in Prag, erinnert er sich, wurden Spenden gesammelt, legten sie mit Hand an bei Sanierungsarbeiten. In Erfurt war nicht mal Hilfe auf dem Jüdischen Friedhof gefragt. Hier gibt es Gärtner, und für nur zwei Stunden Beschäftigung einen Arbeitsschutz zu organisieren, hätte wohl mehr Umstände als Nutzen gebracht.
Hilfe zu leisten, wo offenbar niemand Hilfe braucht, ist gar nicht so einfach. Diese Erkenntnis werden die BJSD-Mitglieder wohl mit nach Hause nehmen. Neue Freundschaften und Kontakte aber werden bleiben nach dem Tikkun-Olam-Seminar in Erfurt, Einblicke in das jüdische Leben in Thüringen. Was bleibt den Erfurtern? Das Drehbuch für das diesjährige Chanukka-Spiel der Kindergruppe, das die Studenten mitgestaltet haben. Und natürlich die Oktober-Sendung von »Radio Shalom«.

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