von Talia S. Coutin
Rabbiner Mordechai Becher hatte keine Ahnung, daß er mit einem Mausklick und einem Ausflug ins südafrikanische Buschland dazu beitragen würde, das Leben eines Rucksacktouristen umzukrempeln, der spirituell auf der Suche war. Becher grillte gerade Fleisch unter dem ewig blauen Himmel nördlich von Johannesburg, als sein Freund eine Gruppe junger Wanderer bemerkte, sie heranwinkte und einlud, mit ihnen zu essen. Einer der jungen Männer sagte den beiden Rabbinern, er sei Jude, allerdings bestehe seine einzige Verbindung zur jüdischen Religion in den Fragen, die er ab und zu via Internet einem Rabbiner stelle. Zufall oder göttliche Vorsehung – Becher war eben jener Rabbiner, der auf der anderen Seite des Cyberspace-Dschungels in Israel gesessen hatte und sich Antworten auf die Fragen überlegte, die der junge Mann über den E-Mail-Service »Ohr Someach – Fragen Sie den Rabbiner« an ihn richtete.
»Wir waren beide ganz schön von den Socken«, sagte Becher, der einer von drei fest angestellten Rabbinern bei der »Ask the Rabbi«-Website von Gateways ist. »Göttliche Vorsehung führte sie in unsere Nähe, aber es war der menschliche Wille, daß sie sich zu uns gesellten«, sagte er in Anspielung auf die Gastfreundschaft seines Freundes, des in der Zwischenzeit verstorbenen Rabbiners Gabriel Klatzko. Mehrere Jahre nach der Begegnung in Südafrika kann Becher voll Stolz berichten, daß der junge Rucksacktourist heute ein religiöses Leben führt und vor kurzem geheiratet hat.
In den vergangenen Jahren haben zumeist orthodoxe jüdische Organisationen eine Reihe neuer »Fragen Sie den Rabbiner«-Websites eingerichtet. Für den Nutzer sind sie gebührenfrei, denn sie werden durch Spenden finanziert. Der Service hat inzwischen bereits handfeste Ergebnisse gezeigt. Rabbiner Yosef Carmel, Dekan des Eretz-Hemdah-Instituts in Israel, berichtet, wie ein junger Mann aus Istanbul, der nichts über das Judentum wußte, die »Fragen Sie den Rabbiner«-Website des Instituts nutzte, um etwas über sein kulturelles Erbe zu erfahren. Schließlich heiratete er eine Jüdin, machte Alija und führt heute ein religiöses Leben. »Das ist die Macht des Internets«, sagt Carmel, »es stellt eine Verbindung her zu ihren Wurzeln.« Das Personal für die Website stellen Rabbiner, die nach einem siebenjährigen Programm von Eretz Hemdah die Smicha erhalten.
Aber warum können die Wißbegierigen nicht in die Synagoge gehen und ihren Rabbiner fragen? »Juden wohnen heutzutage viel verstreuter als früher«, erläutert Samuel Heilman, Professor für Judaistik und Soziologie an der New York City University. Darüber hinaus stoßen jüngere Juden, die keiner Gemeinde angehören, am wahrscheinlichsten im Internet auf das Judentum, sagt Heilman.
Die Union for Reform Judaism betreibt eine der wenigen nichtorthodoxen »Ask the Rabbi«-Websites. Die United Synagogue of Conservative Judaism aber hat kein derartiges Portal. Heilman erklärt den Mangel an nichtorthodoxen Websites mit der jeweiligen Eigenart der verschiedenen Bewegungen. »Das orthodoxe Rabbinat ist viel eher bereit, den Menschen zu sagen, was sie tun sollen«, sagt Heilman. Juden, die sich keiner Gemeinde anschließen wollen, sich aber für Religion durchaus interessieren, seien der am schnellsten wachsende Teil des amerikanischen Judentums. Ihr Bedarf nach rabbinischer Beratung steige rapide, sagt Heilman.
Rabbiner Yaakov Menkin, Direktor des Projekts Genesis, eines jüdischen Beratungsvereins, der fünf verschiedene Websites betreibt, öffnete vor neun Monaten das Webportal www.JewishAnswers.org. Wie Menkin sagt, hätten andere Sites den Bedarf nicht mehr decken können. Die Genesis-Website umfaßt ein Blog-Format. Die Dienste sind gebührenfrei. »Die Beziehung zwischen Geld und Mizwot ist nicht gut«, sagt Menkin.
Warum viele Menschen eine Online-Beratung vorziehen, liege auch an der Anonymität, die diese bewahrt, erklärt Rabbiner Yalman Shmotkin, Direktor von www.Chabad.org. »Wir wollen den Leuten die Möglichkeit bieten, mit einem Rabbiner zu sprechen ohne die einschüchternde Wirkung, die es immer hat, wenn man jemandem an einem konkreten Ort gegenübertreten muß.«
Chabad Lubawitsch gehört zu den Pionieren der »Ask the Rabbi«-Websites. Bereits 1988 suchte der inzwischen verstorbene Rabbiner Yosef Yitzchak Kazen über Fidonet, ein Online-Diskussionsnetzwerk, den Kontakt zu tausenden Menschen, sagt Shmotkin. 1994 gründete Kazen Chabads erste »Ask the Rabbi«-Website. Auf der heutigen Version haben in den vergangenen jünf Jahren 40 Rabbiner und Pädagogen über 500.000 Fragen erörtert – »das sind rund 200 am Tag«, berichtet Shmotkin.
Wie aber können die Betreiber die Effektivität ihrer Dienste einschätzen, wenn der Cyberspace doch Ratsuchende von Beratenden trennt? Rabbiner Chaim Cunin, Direktor der Website www.askmoses.com, erzählt: Einer seiner Internet-Rabbiner habe ihn einmal morgens um halb vier angerufen und ihm aufgeregt mitgeteilt, er sei sich sicher, daß das Mädchen, mit dem er gerade live gechattet hatte, Selbstmord begehen würde. Gemeinsam überredeten die beiden Rabbiner das Mädchen, psychiatrische Hilfe zu suchen und retteten ihr so das Leben. »Dies ist ein wunderbares Beispiel für die Bestimmung eines Rebbe«, sagt Cunin, »für einen Menschen in Not da zu sein, ob er jüdisch ist oder nicht.«
Da gründliche Untersuchungen des Phänomens noch ausstehen, bezweifeln Wissenschaftler wie Samuel Heilman, ob durch derartige Websites das Niveau der Religiosität angehoben werden kann oder sich die Mitgliederzahlen der Gemeinden erhöhen.
Das Potential solcher Websites erkennt Samuel Heilman allerdings an. »Diese Technologie könnte ein Mittel sein, Leute zu erreichen, die nicht organisiert sind«, sagt er. »Das Element der Gemeinschaft in der jüdischen Existenz wird im virtuellen Raum neu erschaffen, auch wenn es im realen Raum nicht gelingt.«