von Ayala Goldmann
Sie küssten und umarmten ihn. Und Anatol Rosenbaum wusste kaum, wie ihm geschah. Während der orthodoxen Rabbinerkonferenz in Berlin stürzten mehr als 20 schwarz gekleidete Rebbes auf ihn zu und feierten ihn als lebendes Wunder. Erst später begriff der frühere Ost-Berliner Kinderarzt, was die Rabbiner so begeistert hatte: In ihren Augen war sein Überleben ein Beweis für eine alte Lehre der Kabbala. Dr. Anatol Rosenbaum, früher Anatol Held, heute 67, Republikflüchtling, ehemaliger Stasi-Häftling und verurteilter »zionistischer Agent«, hatte den Blutkrebs besiegt, weil er seinen alten jüdischen Familiennamen wieder angenommen hatte.
Wer weiß? Vielleicht hat die Namensänderung, zusammen mit den Stammzellen eines israelischen Knochemarkspenders, den Todesengel tatsächlich in die Flucht getrieben. »Mit meinem Geist lenke ich meinen Körper«, sagt Rosenbaum mit schwerem Berliner Akzent das hebräische Morgengebet zitierend. Ein Gebet, das ihm während seiner über zweijährigen Odyssee durch die Gefängnisse der DDR-Staatssicherheit zum Mantra geworden war.
Vor fünf Jahren erkrankte Rosenbaum an chronischer Leukämie, vermutlich eine Folge von Röntgenbestrahlungen durch die Stasi während seiner Haftzeit in Cottbus. Er wäre nicht der erste DDR-Regimegegner, der an Leukämie erkrankte. Jürgen Fuchs und Rudolf Bahro starben an der Krankheit. Rosenbaum aber lebt. Seit seiner Knochenmarktransplantation ist sein Immunsystem allerdings stark angegriffen. Immer wieder greift er zur Mineralwasserflasche, weil sein Körper nicht genug Speichel bildet. Sein Atem geht schwer, einige Zähne hat er verloren, und wie die meisten Ärzte hasst er es, sich in der Rolle des Patienten wiederzufinden. Doch seinen Charme, seinen Sarkasmus und seinen ausgeprägten Querkopf hat sich Rosenbaum bewahrt.
Und dann erzählt er die Geschichte, die die Rabbiner so begeistert hat: »In einer Nacht lag ich fast im Sterben, es ging mir wirklich schlecht. Dann habe ich einfach ein Zwiegespräch mit Gott gehalten und habe gesagt, Adonaj, was ist das für eine verrückte Sache, erst lässt du mich da als Zionisten verurteilen, dann komme ich raus, dann kommt Knochenmark aus Israel und ich werde gerettet. Du kannst doch nicht so was machen, so meschugge sein und mich jetzt sterben lassen!« Fast wie ein Kind, das Gott überredet hat, ihm ein Geschenk zu machen, berichtet Rosenbaum von seinen erfolgreichen Verhandlungen mit dem Allmächtigen: »Na ja, und da habe ich gesagt, Adonaj, ich biete dir einen Deal an. Du lässt mich leben, und ich nehme meinen alten jüdischen Namen Rosenbaum wieder an, der bis ins 17. Jahrhundert zurückreicht, und ich fange neu an.« Am nächsten Tag sei es ihm schon viel besser gegangen, sagt der Kinderarzt. Die Sonne schien in sein Zimmer. Die Krankenschwestern begrüßten ihn mit »Guten Morgen, Dr. Held« und erklärten ihn für verrückt, weil er plötzlich auf der Anrede Dr. Rosenbaum bestand.
Den Namen Held verdankt Anatol seiner Mutter. Seine Familiengeschichte schildert der Kinderarzt in dem vor Kurzem erschienenen autobiografischen Buch Die DDR feiert Geburtstag, und ich werde Kartoffelschäler. Erinnerungen, die sich vor allem mit den Jahren 1968 bis 1970 befassen, als Anatol Held nach seiner gescheiterten Flucht aus der DDR in den Gefängnissen der DDR saß – und dort auch von seiner Mutter besucht wurde. Nelly Held, bereits in den 20er Jahren glühende Kommunistin, hatte 1930 ihren Mann Heinrich Ernst Ludwig Rosenbaum, einen bekannten und mit Bertolt Brecht befreundeten Theaterregisseur überredet, seinen Bühnennamen Held offiziell anzunehmen und den ihr zu jüdisch klingenden Familiennamen Rosenbaum abzulegen. Dass Nelly Held großen Einfluss auf ihren Mann ausübte, verdeutlicht auch die Tatsache, dass sie ihn 1929 überredete, das Familienbankhaus Edmund Rosenbaum & Co. am Neuen Wall 58 der Kommunistischen Partei zu schenken.
Nach der Machtübernahme Hitlers emigrierte das Ehepaar Held in die Sowjetunion. Anatol Held wurde 1939 in Moskau geboren. Seine Mutter, Dogmatikerin und Exzentrikerin, arbeitete in Moskau und später in der DDR als Rundfunksprecherin und Mitarbeiterin der staatlichen Zensur. Obwohl ihr Sohn sich nach wie vor als Marxisten bezeichnet und für die Theorien von Karl Kautsky schwärmt, ist eine gutbürgerliche Ader nicht zu verkennen: Anatol Rosenbaum lebt heute in einem der besseren Viertel im Westen Berlins, interessiert sich für Kunst und ist in zweiter Ehe mit einer Violinistin aus Israel verheiratet. Wenn er dazu aufgelegt ist, meldet sich er sich am Telefon mit »Bankhaus Rosenbaum«.
Dass ihr Mann jahrelang in den Gefängnissen der Staatssicherheit saß, hat seine zweite Frau erst nach der Wende erfahren. 1975 hatte Rosenbaum aus Ost-Berlin ausreisen dürfen, nachdem sich der SPD-Politiker Herbert Wehner und der Staat Israel jahrelang für ihn eingesetzt und die Bundesrepublik ihn für 250.000 DM freigekauft hatten. In West-Berlin praktizierte Anatol Rosenbaum als Kinderarzt, fuhr Einsätze im Notarztwagen und betreute auch viele Kinder von Mitgliedern der Jüdischen Gemeinde zu Berlin. So lernte er auch Nea Weisberg-Bob kennen. Er behandelte jahrelang ihre Tochter, und sie veröffentlichte in diesem Herbst sein Buch in ihrem kleinen Verlag. In West-Berlin lebte Anatol Rosenbaum wie auf einer Insel: »Für mich gab es keine DDR mehr«, sagt er. Aber dann kam die Wende und mit ihr die Erinnerung. Rosenbaum wachte nachts schreiend aus Albträumen auf, saß wieder in Gefängniszellen und wurde von der Stasi verhört. Sein Buch Die DDR feiert Geburtstag, und ich werde Kartoffelschäler sieht er als Therapie: »Es ist ein emotionaler Erguss und kein literarisches Werk.«
Doch gerade deshalb ist das Buch lesenswert, ein Stück erlittener Geschichte, die Rosenbaum mit bemerkenswertem Sarkasmus und schwarzem jüdischen Humor schildert. Neben seinem Gebetbuch, das ihm Kraft gab, muss es dieser Humor gewesen sein, der ihm half, seine Haftzeit zu überstehen. Schon als Jugendlicher hatte sich Anatol Held gegen die DDR-Diktatur aufgelehnt – er dachte zu kreativ. Seinen Posten als FDJ-Sekretär verlor er mit 16, weil er junge Christen nicht bekämpfen, sondern mit ihnen diskutieren wollte.
Sein Judentum entdeckte er spät. Als Medizinstudent im Krankenhaus Friedrichshain ärgerte er sich über zweideutige Bemerkungen seines Chefs über die NS-Zeit. Nach der Visite solidarisierten sich ein Pfleger und eine Krankenschwester mit dem Studenten und sagten, er dürfte sich solche Sprüche nicht gefallen lassen: »Sie sind doch Jude. Sie sollten doch dagegen besonders protestieren!« Der junge Anatol fiel aus allen Wolken. »Nach diesem Ereignis bin ich zu meiner Mama gerannt und fragte, was ist los? Erst waren wir in Russland Deutsche, jetzt bin ich auf einmal Jude, was bin ich denn?« Doch Nelly Held wollte von diesem Konflikt nichts wissen.« Deine Großeltern, deine Vorfahren waren alle Juden, aber ich bin Kommunistin, und für uns spielt die Religion keine Rolle«, beschied sie ihrem Sohn. Anatol Held musste sich selbst einen Reim auf eine der wichtigsten Fragen seines Lebens machen.
Er nahm Kontakt zur jüdischen Gemeinde in Ost-Berlin auf. Er lernte Hebräisch. Der ungarische Rabbiner Singer, der im Osten der Stadt amtierte, gab ihm jede Woche eine Privatstunde. Dafür behandelte der junge Arzt die Rebezzin umsonst. Anatol Held holte sogar freiwillig die Beschneidung nach. Und immer öfter riskierte er eine dicke Lippe gegen das DDR-Regime. Als Arzt, der sein Examen mit sehr guten Noten abgelegt hatte, fühlte er sich unbegabten Parteifunktionären überlegen und ließ das seine Umgebung deutlich spüren. Dazu kamen sein heftiges Temperament, sein beißender Witz und ein naiver Glaube, die Stasi könne ihm nicht wirklich etwas anhaben. »Auf einen Scheiß-Staat mehr oder weniger in der UNO kommt es auch nicht an«, erklärte er zum Beispiel im Kinderkrankenhaus Berlin-Buch, als die DDR in die Welt-Organisation aufgenommen wurde.
Ende der 60er Jahre hatte Anatol Held genug vom Pseudosozialismus. Zusammen mit seiner ersten Frau, einer Grafikerin, beschloss er, den fünfjährigen Sohn mitzunehmen und in den Westen zu fliehen. Er nahm Kontakt zu einem Jugendfreund seines Vaters in Israel auf. Der vermittelte den Kontakt zu einem Bürger- meister in der Bundesrepublik. In einem bayrischen Amt wurden heimlich westdeutsche Pässe ausgestellt. Doch ein Stasi- Spitzel meldete die Aktion nach Ost-Berlin. Held und seine Frau wurden festgenommen, der Sohn kam zu Freunden, und der junge Arzt fand sich im Stasi-Gefängnis in Berlin-Hohenschönhausen wieder. In seiner Anklageschrift las er: »Mit Hilfe westdeutscher Organisationen und den organisierten Zionisten wollte Dr. Held die DDR verlassen und in ein Land gehen, das Napalmbomben auf Frauen und Kinder wirft. Dies ist eine große Schande, besonders für einen Kinderarzt.« Helds Einwände, Israel habe in all seinen Kriegen niemals Napalm eingesetzt hat, wurden ge- flissentlich ignoriert. Held wurde 1969 zu drei statt zwei Jahren Haft verurteilt – er konnte wieder einmal nicht schweigen und beschimpfte die Richter und den (jüdischen) Staatsanwalt in seinem Jähzorn als »rot lackierte Nazis«.
Wer Anatol Rosenbaums Odyssee durch die Stasi-Gefängnisse Hohenschönhausen, Cottbus, die Festung Torgau, das »Kommando X« und die Psychiatrie Waldheim liest, den packt schon nach wenigen Seiten die Wut. In kurzen, knappen Sätzen schildert Rosenbaum Einzelhaft, zermürbende Verhöre und Folter mit antisemitischen Untertönen. »In der Nacht wird die Tür aufgerissen. Zwei bullige Wachtmeister zerren mich in den Gang und schließen mich mit Handschellen an ein großes Eisengitter. Ich hänge mit ausgestreckten Armen, wie an einem Kreuz. Meine Füße erreichen nicht den Boden. Sie jauchzen und schreien: »Du bist Jude, willst du auch ein König werden?« Die Misshandlung in der Festung Torgau sollte eine Strafe dafür sein, dass der Kinderarzt keine Verpflichtungserklärung der DDR-Staatssicherheit unterschreiben wollte. Bis heute leidet er an den Folgen der Muskelzerrung in der Schulter.
Doch das Schlimmste, was die Stasi dem Kinderarzt angetan hat, ist wahrscheinlich die Röntgenbestrahlung. »Jedes Mal verlassen die Wachsoldaten den Raum, der ungewöhnlich dicke Mauern hat. In der Wand befindet sich ein Spalt mit einem Objektiv, wie bei einer Fotokamera. Solche Räume mit dicken Mauern kenne ich aus der Röntgenabteilung unseres Krankenhauses. Was macht die Stasi mit den Gefangenen? Röntgenstrahlen kann man nicht sehen und nicht fühlen«, schreibt Rosenbaum. Das Sozialgericht Berlin lehnte vor zwei Jahren seine Klage auf Entschädigung ab. Die Richter hielten die Schädigung zwar für wahrscheinlich, doch Rosenbaum konnte die Strahlendosis nicht nachweisen.
Er lebt. Das ist die Hauptsache. Er versucht, sein angeschlagenes Immunsystem vor Erkältungen zu schützen, bekommt regelmäßig Infusionen, macht Krankengymnastik, interessiert sich für moderne israelische Kunst. Und er redet nach vielen Jahren endlich über seine Geschichte. Manchmal ist er kaum zu bremsen. Seine erste Ehe, bekennt Rosenbaum freimütig, sei unter anderem an seiner Neigung zum Monologisieren gescheitert. »Meine Frau trennt sich 1979 von mir. Sie erklärt, ich wäre ein sehr anständiger Mensch, aber zu anstrengend, und sie möchte endlich glücklich werden«, schreibt er in seinem Buch. In der West-Berliner Jüdischen Gemeinde fühlte er sich nicht zuhause, schimpfte über »Immobilienjuden«, stritt sich mit Heinz Galinski. Im Berliner KaDeWe gab er sich an der Kasse unlängst als Ein-Euro-Jobber aus. Seine Aufgabe, erklärte er scheinheilig, sei es, die Kundenfreundlichkeit der Mitarbeiter zu prüfen. Dass gleich mehrere Verkäuferinnen auf sein Spiel hereinfielen und sich in Nettigkeiten überboten, ließ sich der Kinderarzt gerne gefallen. Ein Querkopf mit Charme. Ein Jude, der in kein System passt – ein Held namens Rosenbaum.
Das Buch »Die DDR feiert Geburtstag, und ich werde Kartoffelschäler« ist im Berliner Lichtig-Verlag erschienen, 14,90 Euro.