von Ulrich Heyden
Ein paar Jungen in schwarzen Anzügen und breitkrempigen Hüten toben die Treppe hinauf. Vor der Tür zur Synagoge im ersten Stock werden sie wie von unsichtbarer Hand plötzlich ruhig. An einem Becken waschen sie sich die Hände. Dann betreten sie den Betsaal. Es ist Freitag, fünf Uhr nachmittags. Langsam füllt sich die neue Synagoge im Jüdischen Zentrum in Moskau. Es kommen Pensionäre, Berufstätige und Jungen im Schulalter. Der mit dunklem Holz verzierte Saal strahlt in ruhigem Licht, ein Ort der Besinnung in einer wilden Stadt. Nach eineinhalb Stunden gehen die Gemeindemitglieder in den ersten Stock zum Kiddusch. Die Tische sind festlich gedeckt, es gibt russische Salate und Challe.
Wenn der nächste Schabbat vorbei ist, wird Russland einen neuen Präsidenten bestimmen. »Ich wähle Herrn Medwedjew«, sagt Alana, eine junge Frau mit blonden Locken. »Wir sind alle für ihn. Er ist sehr symphatisch. Seine Mutter ist Jüdin.« Woher sie das wisse? »Es steht im Internet.«
Dass Medwedjew jüdische Wurzeln hat, berichten die russischen Zeitungen nicht. Jedoch scheinen die Meldungen nicht völlig aus der Luft gegriffen zu sein. Denn auch die israelische Tageszeitung Haaretz schrieb über die Gerüchte, erwähnte aber, die Führer der jüdischen Gemeinde in Russland wollten sich nicht zu diesem Thema äußern. Sie hätten Angst, Medwedjews Image zu schaden. Ein Jude im höchsten Staatsamt – das könnten russische Nationalisten für ihre Propaganda ausschlachten, und der latente Antisemitismus könnte wieder aufflackern.
Alana lacht verlegen. Es ist kein einfaches Thema. Was die Qualitäten von Medwedjew sind? »Er steht in engem Kontakt mit Putin und ist sein Nachfolger.« Man sehe ja, was Putin geschafft habe. Mit der Wirtschaft gehe es jetzt voran.
Das Moskauer Jüdische Zentrum, nicht weit vom Prospekt Mira, ist ein modernes sechsstöckiges Gebäude mit Synagoge, Unterrichtsräumen und Sportsaal. Es entstand in der Nähe einer alten hölzernen Synagoge, die 1993 einem Brand zum Opfer fiel. Der Bau des Zentrum wurde von Sponsoren finanziert. Ihre Namen kann man auf großen Kupfertafeln am Eingang lesen. Die größte Tafel trägt den Namen von Roman Abramowitsch, dem Milliardär und Gouverneur der fernöstlichen Region Tschukotka.
Ein kleiner junger Mann mit schwarzen Haaren erzählt, er sei vor einigen Monaten aus Kanada nach Russland zurückgekehrt. Zwölf Jahre habe er dort mit seinen Eltern gelebt, sagt der 24-Jährige. Nun will er in Moskau leben und Geld verdienen. In Kanada habe er als Immobilienmakler gearbeitet. Eigentlich komme er aus der russischen Teilrepublik Dagestan und gehöre zu den Bergjuden. Moskau mag er, es sei eine »sehr lebendige und interessante Stadt«. In Kanada könne man sich erholen, aber es sei langweilig. Außerdem fühle er sich dort fremd.
Dass er in Moskau von Skinheads angegriffen wird, davor hat der junge Rückkehrer keine Angst. »Ich glaube an das Schicksal. Ich kann auch in Kanada von einem Auto überfahren werden.« Zur Präsidentschaftswahl will er nur gehen, wenn auch die Verwandten wählen. »Wenn, dann werde ich für Medwedjew stimmen.«
Auch Grigori, ein Bankangestellter, der vor Kurzem ebenfalls aus Kanada zurückgekehrt ist, würde für Medwedjew stimmen. Aber er hat keinen russischen Pass mehr und kann deshalb nicht wählen gehen. Für Juden sei die Lage unter Putin besser geworden, sagt Grigori. Doch: »Natürlich ist das mit Chodorkowski schrecklich.«
An einem Tisch vor dem großen Bücherschrank in der Synagoge sitzt der 60-jährige Aleksandr mit einem Sechsjährigen. Er lehrt den Kleinen das Alefbet. Zur Präsidentschaftswahl findet er zunächst nur gewundene Worte. »Ich bin mit denen einverstanden, die sagen, dass es keinen Sinn hat, zur Wahl zu gehen, weil das Resultat vorherbestimmt ist.« Dennoch, der Kandidat Medwedjew sei ihm »sehr symphatisch«. Doch die Frage sei, woher kommt er?
Auf der Galerie der Synagoge warten zwei ältere Damen. Die eine von ihnen, untersetzt und mit grüner Wollmütze, heißt Raissa. Ganz ernst sagt sie: »Wir gehen wählen, aber unsere Kinder nicht. Wir haben noch Disziplin, wir haben ja alles durchgemacht.« Dann wendet sie sich ab, denn ein älterer Herr mit Pelzmütze kommt aus dem Sportsaal. Dort stemme er noch Hanteln, verkündet er stolz. Seinen Namen möchte der 79-Jährige aber nicht in der Zeitung lesen. Wie er lebt? »Allein. Meine beiden Frauen sind gestorben.« Mit den monatlich 5.000 Rubel (138 Euro) Rente komme er nicht über die Runden, aber sein Bruder in den USA helfe ihm.
Für die Juden in Russland sei das Leben einfacher geworden, sagt der alte Sportler. Ab Sommer soll es visafreien Reiseverkehr mit Israel geben. »Wer Mitglied des Jüdischen Zentrums ist« – der Alte zeigt stolz seine weiße Plastikkarte – »bekommt bei Transaero (einer russischen Fluggesellschaft) fünf Prozent Rabatt.«
Zur Wahl gehen möchte der 79-Jährige aber nicht. »Das ist keine richtige Wahl.« Politiker wie Garri Kasparow und Michail Kasjanow seien nicht zugelassen worden. Dabei macht der alte Herr nicht den Eindruck, als sei er ein überzeugter Liberaler. Sein Idol ist der russisch-jüdische Schlagersänger Iosif Kobson. Der gehört zum Moskauer Establishment. Roman Abramowitsch findet der Alte »zu reich«, und mit Chodorkowski sei »nicht alles klar«. Dennoch, schränkt er ein, man müsse anerkennen, dass Abramowitsch einer der Hauptsponsoren des Jüdischen Zentrums ist.
Für Reuven Kuravski, Religionslehrer an einer Moskauer jüdischen Schule, kommt nur einer der Kandidaten in Frage: »Dmitri Medwedjew, denn ich glaube, dass er den Kurs fortsetzen wird, der für unser Jüdisches Zentrum wichtig ist.« Von den anderen Kandidaten weiß Kuravski nicht, was er erwarten soll. Der fromme Mann mit schwarzem Hut und langem Bart, der in Russland durchaus potenzielles Ziel von rechten Gewalttätern ist, hofft, dass die Regierung mehr zum Schutz von Juden unternimmt. In seinem Beisein sei einmal ein Freund zusammengeschlagen worden, sagt er. Die Täter säßen jetzt hinter Gittern. Dennoch meint er: »Das russische Volk verhält sich gegenüber den Juden normal.« Alles hänge davon ab, was man in den Regierungskorridoren und im Fernsehen sagt. »Wenn sie dort sagen, dass wir alle freundschaftlich zusammenleben sollen, wird das auch auf den Straßen so sein.«