von Richard Herzinger
Zum zweiten Mal innerhalb kurzer Zeit sorgt ein unbedachter Vergleich für Irritationen. Der britische Entwicklungshilfeminister Shahid Malik sagte diese Woche in einem Interview, die Muslime fühlten sich zunehmend bedroht »wie die Juden Europas«. Erst kürzlich hatte der bisherige Leiter des Zentrums für Türkeistudien in Essen, Faruk Sen, die Türken als »die neuen Juden Europas« bezeichnet, was zu seiner Absetzung als Institutsdirektor führte. Er hat diese Formulierung allerdings längst bedauert.
Vergleiche mit der Judenverfolgung sind zur abgeschmackten, beliebigen Ramschware geworden – spätestens, seit Hundebesitzer ihren Vierbeinern aus Protest gegen den staatlichen Leinenzwang Judensterne anheften wollten. Im politischen Propagandakrieg hat die Vergleichsmanie in den vergangenen Jahren freilich eine neue, besonders perfide Dimension angenommen. Zum Beispiel, wenn arabische, palästinensische und iranische Propagandastellen über Israels Besatzungpolitik als einem »Holocaust an den Palästinensern« fabulieren oder generell von einem »Holocaust gegen die Muslime« reden.
In dieser Version geht der Vergleich über die Absicht hinaus, vom Urbild des jüdischen Opfers zu profitieren, indem man sich mit ihm auf eine Stufe stellt. Die Usurpation des Begriffes »Holocaust« soll die Weltöffentlichkeit daran gewöhnen, ihn nicht länger mit jüdischem, sondern mit vermeintlich muslimischem Leid zu identifizieren: Den Muslimen (beziehungsweise den Palästinensern) drohe heute durch jüdische Hand der wahre »Holocaust«, dessen historische Realität diese Propaganda gleichzeitig anzweifelt.
Der britische Minister – selbst Muslim – wollte sich gewiss nicht in die Nähe solcher paranoiden Geschichtsverdrehungen begeben. Er betont, er wolle keine Assoziation zum Holocaust wecken. Dennoch ist sein Vergleich deplatziert. Er verstellt den Blick auf die Wirklichkeit und die Perspektiven muslimischen Lebens in Europa. Denn von einer systematischen Diskriminierung oder gar Verfolgung der etwa 25 Millionen Muslime in Europa, wie sie den Juden des 19. und 20. Jahrhunderts widerfuhr, kann heute keine Rede sein. Dass Muslime als Einzelne und als Gruppe tatsächlich vielfach herabwürdigenden Vorurteilen oder rassistischen Anwürfen und Angriffen ausgesetzt sind, ist zwar wahr und schlimm. Doch es gibt in den europäischen Demokratien keine offizielle Politik der Ausgrenzung und Diffamierung gegenüber der islamischen Religion und Kultur – von staat- lich geförderten oder geduldeten Pogromen gar nicht zu reden.
Im Gegenteil: Nachdem die muslimische Präsenz in Europa jahrzehntelang verdrängt oder ignoriert wurde, erleben wir heute einen intensiven Diskurs über ihren Platz in der Mitte der europäischen Gesellschaft. Auch existiert keine mit dem Antisemitismus vergleichbare geschlossene Weltanschauung, die den Islam zur Wurzel aller Weltübel erklärt und das Denken tragender Schichten der Gesellschaft beherrschen würde. Noch weniger als Muslime im Allgemeinen sind türkischstämmige Europäer im Besonderen von einer organisierten Verfolgung bedroht, nicht zuletzt dank der Existenz eines türkischen Staates, dessen Bedeutung für Europa in den kommenden Jahrzehnten weiter zunehmen wird.
Jenseits platter Vergleiche und ihres politisch-ideologischen Missbrauchs kann es für ethnisch-religiöse und kulturelle Minderheiten allerdings legitim und sogar unerlässlich sein, die jüdische Erfahrung in Europa als Maßstab heranzuziehen. So lehrt die jüdische Geschichte einerseits Skepsis gegenüber dem Zauberwort »Integration«. Ihre Einpassung in die europäische Kultur schützte die Juden nicht vor Hass und Vernichtung. Sie stachelte vielmehr erst recht die Vernichtungsfantasien »völkischer« Verschwörungstheoretiker an. Das jüdische Beispiel zeigt andererseits aber auch, dass nur die Identifikation mit universalistischen Grundsätzen von Vielfalt und Pluralismus es möglich macht, eine eigenständige Identität in einer offenen, säkularen Gesellschaft zu begründen und zu bewahren.
Wenn muslimische, wenn türkische Gemeinden heute aufgefordert werden, sich ohne Vorbehalt zu diesen Werten zu bekennen, sollten sie dies nicht als Angriff auf ihre traditionellen Eigenheiten verstehen. Es war die Fähigkeit des Judentums, seine uralte Überlieferung in das Zukunftsprojekt der europäischen Aufklärung und Säkularisierung einzubringen und zu transformieren, die es zu einem zentralen Bestandteil der europäischen Moderne gemacht hat. Würden sie diesem Beispiel folgen, könnten die Muslime im besten Sinne »Juden Europas« sein.
Der Autor ist Redakteur bei der »Welt am Sonntag«.