brasilien

Projekt »Hand reichen«

Fünfzehn Millionen Brasilianer hungern. Die Wirtschafts-und Finanzkrise hat das Heer der Obdachlosen in den Millionenstädten sichtlich vergrößert, die Slums wachsen enorm. Geht Boris Ber, Präsident der Israelitischen Föderation São Paulos, durch die reichste lateinamerikanische Megacity, beobachtet er ungezählte Szenen schockierenden Elends: Abgerissene, verdreckte Gestalten, darunter alte kranke Frauen, die in Müllsäcken wühlen und stinkende, teils völlig verdorbene Nahrungsreste in sich hineinschlingen. »Sie wissen nicht mehr, dass sie Menschen sind, sie leben wie Tiere«, sagt Hedwig Knist, eine deutsche Obdachlosenbetreuerin.
Boris Ber fragt sich stets besorgt, ob zu diesen Krisenopfern womöglich auch Juden gehören. »Unsere Gemeinde ist sehr gut organisiert, hilft auch Nichtjuden, verwaltet sogar Sozialprojekte der Präfektur, aber wir können nicht in jedem Moment überall sein und sind auf Spenden angewiesen.« Viele Juden schämen sich jetzt in der Krise, ihre Gemeinde um Unterstützung zu bitten – und dann passiert es: Immer wieder stürzen manche jäh ins Elend, sehen keinen anderen Ausweg mehr und ziehen in eine Baracke der über 2.000 extrem gewaltgeprägten Slums von São Paulo. »Wir haben immer wieder Juden dort rausgeholt. Ich bin ganz sicher: Derzeit haust keiner mehr von uns in Zonen absoluter Misere«, sagt Ber. Aber die Grundprobleme der brasilianischen Gesellschaft könne man nun einmal nicht lösen, vor allem die für Europäer schwer vorstellbaren Sozialkontraste. Brasilien hat rund 190 Millionen Einwohner, die jüdische Gemeinde zählt um die 200.000 Mitglieder, sie ist die größte Lateinamerikas und konzentriert sich in São Paulo.

stipendien Die Hilfsaktivitäten sind breit gefächert. Zu den typischen Fällen zählt, dass Firmen jetzt in der Krise ihren langjährigen jüdischen Anwalt entlassen und dafür einen jungen für den halben Lohn beschäftigen. Der Gefeuerte hofft, möglichst rasch über die Stellenbörse der jüdischen Gemeinde wieder vermittelt zu werden. Doch das dauert, und Arbeitslosen- oder Sozialhilfe wie in Deutschland ist in Brasilien unbekannt. Die Ersparnisse der Familie schmelzen rasch dahin, bis der Vater für seine Kinder das Schulgeld fürs jüdische Gymnasium nicht mehr aufbringen kann. Dann springt die Gemeinde ein, zahlt Stipendien und verhindert, dass die Kinder an eine der chaotischen öffentlichen Schulen wechseln müssen.
Für Frühstück und Mittagessen der Kinder ist auf dem Gymnasium gesorgt. Aber wie ernähren sich die Eltern und beschaffen Lebensmittel für den Abend, das Wochenende? Dafür sorgt die jüdische Hilfsorganisation »Ten Yad« (hebr. »Hand reichen«) mit ihrer Garküche in der Rua Ribeiro de Lima 530, in São Paulos früherem Judenviertel Bom Retiro. »Kampf gegen Hunger und Misere« ist der Leitspruch von »Ten Yad«. Über 300 Freiwillige und ein Dutzend Festangestellte verköstigen täglich rund 2.100 bedürftige Juden, bringen Kranken und Alten das Essen auch nach Hause.
spenden In Räumen neben der Kantine packen Henny Schleier und Dora Pressel, beide bereits über 70, Brot für die Grundnahrungsmittel-Pakete ab, andere Freiwillige stellen den »Kit Laticinios«, große Taschen mit Milchprodukten zusammen, die ebenfalls wöchentlich an arme jüdische Familien verteilt werden. Hinzu kommen noch Frischfleisch-Rationen. »Ten Yad« prüft beständig, welche Lebensmittel jede Familie, jeder Alleinstehende unbedingt braucht. Denn leider ist es unmöglich, alle mit allem zu versorgen, dafür reichen die Mittel nicht. In der Krise haben die Spenden spürbar abgenommen. »Die allermeisten aus der Gemeinde leben jetzt knapper. Zu uns kommen viel mehr Hungernde, vor allem junge Menschen«, sagt Ariane Stern, eine der Leiterinnen von »Ten Yad«. Viele fahren zwei Stunden mit dem Bus durch São Paulos Verkehrschaos, nur um einen Teller Essen zu ergattern.

lepra Marly Blacher, die zuständige Sozialassistentin des Hilfsprojekts, versucht zu erklären: Brasilien stehe seit Jahrzehnten in einer Dauerkrise, die sich durch die jüngste Finanz- und Wirtschaftskrise lediglich verschärft hat. Seit Jahren wachsen die Slums immer rascher, und es grassiert Lepra, die typische Elendskrankheit. Brasilien zählt zu den zehn führenden Wirtschaftsnationen, exportiert Flugzeuge und Hightech, hat aber gleichzeitig die weltweit höchste Lepradichte, mit jährlich über 50.000 Neuansteckungen, bei großer Dunkelziffer auch in São Paulo. »Krisenfolgen sind in Brasilien viel drastischer als in Europa, da der Staat den Mittellosen weder Wohnung noch Nahrung garantiert«, betont Blacher. »Juden im Slum anzutreffen, ist schockierend und kommt häufiger vor – aber wir lassen keinen dort drin!«
Manche, die mit Blacher an der Uni studierten, Ingenieure oder Rechtsanwälte wurden, schlagen sich heute mühselig als Straßenverkäufer durch, mit den entsprechenden Wirkungen auf die Psyche. Als Grunderfahrung ihrer Arbeit nennt Blacher: »Wer nichts zu essen hat und hungert, der fühlt sich gedemütigt und ist tief gekränkt. Wer körperlich geschwächt, mit leerem Bauch, bei uns um Nahrung bittet, für den gilt dies umso mehr.«
Den Mitarbeitern von »Ten Yad« sei es daher wichtig, nicht nur Essen zu verteilen, sondern das Selbstwertgefühl der betroffenen Juden zu heben und sie aus ihrer Isolation zu holen. So ist die Kantine von Bom Retiro auch Begegnungsstätte und Treffpunkt der jüdischen Gemeinde. Sie hat ein Lesecafé und öffnet bereits am Vormittag. »Für mich ist Ten Yad wie ein Teil der Wohnung, ein Geschenk des Himmels«, sagt ein Mann, der jeden Tag kommt.

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