von Rabbiner Avichai Apel
Seit eh und je gibt es Diebe auf der Welt. Früher schien es manchmal eine Art Beruf zu sein. Ein Beruf, den Menschen in Not und ohne Bildung ausübten, die durch persönliche Umstände in die Welt der Kriminalität gerutscht waren. Heute hört man mehr und mehr von Präsidenten, Ministern, Managern und Religionsführern, die sich im Laufe ihrer Amtszeit haben korrumpieren lassen. Sie waschen Geld, hinterziehen Steuern, überweisen öffentliche Gelder an Verwandte. All das sind Delikte, deren materieller Umfang und deren öffentliche Bedeutung bei Weitem schlimmer sind als das Stehlen eines Radios aus einem parkenden Auto. Das sagen sich viele und tun es den Großen nach – nur in kleinerem Stil.
Was führt einen Menschen zu moralischem Niedergang, und wie kann man das ändern? Was treibt jemanden dazu, eine für die Gesellschaft schlechte Tat zu verüben, obwohl er selbst Kleidung und zu essen hat, ja vielleicht sogar »gut situiert« ist?
Wir sehen, dass vor seinen Augen eine wirtschaftliche Versuchung stand und ihn blendete, so dass er nicht mehr rational abwägen konnte. Es handelt sich hierbei nicht um einen psychisch problematischen Zustand, der es dem Einzelnen in diesem Augenblick unmöglich macht, eine ausgewogene Entscheidung zu treffen. Nein, der Mensch hätte durchaus auch einen anderen Weg wählen können. Er selbst muss sich entscheiden. Keinem anderen kann er die Schuld für seine Tat geben, weder seiner Umgebung noch seinem Elternhaus.
»Siehe, ich habe dir heute vorgelegt das Leben und das Gute, den Tod und das Böse«, schreibt die Tora (5. Buch Moses 30,15). Der Mensch muss sich selbst eine moralische Lebensführung beibringen, um den richtigen Weg zu wählen und Versuchungen zu vermeiden. Die Erziehung zum richtigen Weg endet nicht mit dem letzten Schultag oder mit dem Verlassen des Elternhauses, sondern sie ist ein lebenslanger Prozess. Bis zum Tod muss jeder an seiner Fähigkeit arbeiten, anderen Gutes zu tun.
Die Tora hat uns einen breiten halachischen Kodex gegeben. Darin geht es nicht nur um Gebote, Feiertage, Kaschrut und Schabbat, sondern auch um menschliches Handeln und den Umgang miteinander. Die Tora wurde gegeben, um den Menschen zu erziehen, dass er sich bessere und Edelmut erreiche. Er soll zwischen Gut und Böse unterscheiden können und nicht in Versuchung geraten.
Das menschliche Herz ist nicht aus sich heraus gut, es muss geformt werden. Das Böse zu meiden und das Gute zu suchen, will gelernt sein. Jeder Mensch, der Verantwortung für seine Taten übernimmt und seine Wege korrigiert, bringt sich in einen Zustand, in dem sein Herz gut ist.
Die jüdische Moral betrachtet das Leben als einen trainierbaren Muskel. Je fester der Mensch auf dem moralischen Weg der Tora geht, umso mehr kann er die Bedürfnisse des anderen sehen und ihm Gutes tun.
Das Moralsystem ähnelt der Muskulatur des Körpers. Wird sie nicht trainiert, verfällt sie. Es reicht nicht aus, die Regeln zu kennen, wir sind verpflichtet, die Moral zu üben, denn sie ist kein verlässlicher Instinkt.
Das Judentum kennt ein Fitness-Center der Moral. In der Welt der Jeschiwot sitzen gewöhnlich zwei Schüler in sogenannter Chewruta zusammen. Sie lernen gemeinsam und diskutieren jedes Anliegen, um sich darin zu vertiefen, so dass sie aus diesem speziellen Anliegen auf jede Situation in der Zukunft schlussfolgern können. Rabbiner Israel Salanter (1810-1883), der Begründer der Musarbewegung, regte an, in allen Städten ein »Moralhaus« zu schaffen, einen Ort, an dem jeder Mensch etwas Zeit verbringen konnte um zu lernen, zu diskutieren und das persönliche, familiäre und gesellschaftliche Moral-
niveau zu prüfen.
Wir müssen die Diskussion über Werte und Moral wiederbeleben, in der Familie und unter Freunden, so dass wir all unsere Taten bewusst nach individuellen und kollektiven moralischen Maßstäben prüfen können.
Zwischen Pessach und Schawuot liegen die Tage der Omer-Zählung. Sie sind Tage des Nachdenkens und der Weltverbesserung. In diesen Tagen soll jeder dem Anderen mehr Aufmerksamkeit schenken und für die Taten der Schüler von Rabbi Akiva Verantwortung tragen, die sich gegenseitig nicht respektiert haben. In Psalm 34,15 heißt es: »Lass vom Bösen und tue Gutes; suche Frieden und jage ihm nach.« Das ist der Schlüssel für eine bessere Gesellschaft.
Der Autor ist Rabbiner der Jüdischen Gemeinde Dortmund.