Hannah Arendt

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Das Berliner Mahnmal für die ermordeten Juden Europas grenzt an die »Hannah-Arendt-Straße«. Unter dem Schild ein kleineres, das auf die Profession der Namensgeberin hinweist: »Philosophin«. Das wollte Hannah Arendt nie sein. Als Gün -ter Gaus 1964 ein Fernseh-Interview mit ihr führte und sie gleich am Anfang eine »Philosophin« nannte, kam die Antwort prompt: »Ich gehöre nicht in den Kreis der Philosophen.« Gaus blieb dabei: »Ich halte Sie für eine solche.« Dagegen könne sie nichts machen.
Hannah Arendt. Geboren in Linden bei Hannover, 1906. In Königsberg wächst sie auf, geht nach Berlin und wird nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten von der Gestapo verhaftet. Wieder freigelassen, flüchtet sie mit ihrer Mutter über Prag nach Paris, wo sie für jüdische Organisationen arbeitet. Erste Reise nach Palästina. Zum französischen Freundeskreis gehören Walter Benjamin und der Rechtsanwalt Erich Cohn-Bendit. 1958 klingelt es an der Wohnungstür der Cohn-Bendits in Frankfurt am Main. Sohn Daniel kann sich noch vage erinnern: »Hannah Arendt kam zu uns. Ich war 13. Und sie blieb dann ein paar Stunden. Erzählte. Unterhielt sich mit meiner Mutter.« Als der Studentenführer 1968 von der Seine an den Main flüchtete, bot ihm Hannah Arendt finanzielle Unterstützung an und versicherte ihm brieflich, »dass Deine Eltern ... sehr zufrieden mit Dir sein würden, wenn sie noch lebten«.
Die Pariser Anschrift von Cohn-Bendits Eltern findet sich in einem Buch der Berliner Publizistin Christine Fischer-Defoy, die sich bereits um die privaten Brief-Kontakte von Marlene Dietrich, Walter Benjamin und Heinrich Mann gekümmert hat. Und jetzt Hannah Arendts Adressbuch aus den Jahren 1951 bis 1975. Fischer-Defoy nennt sie eine »Menschenfischerin«: »Jeder dieser Einträge zeugt von einer Beziehung zu einem Menschen. Und das sind über 500 Namen aus aller Welt. Mit denen hat sie auch darüber hinaus korrespondiert oder sich getroffen.«
Auffallend, dass so viele Namen und Adressen ausgestrichen sind. Nicht immer sind die Ausstreichungen Hinweise auf Umzüge und Todesfälle. Nach der heftigen Debatte über ihr Buch Eichmann in Jerusalem mit dem sprichwörtlich gewordenen Untertitel »Banalität des Bösen« hatten ehemalige Freunde wie Gerschon Scholem den Kontakt zu Hannah Arendt abgebrochen. Ein Streitpunkt war ihre Kritik an den Judenräten und ihrer Kollaboration mit den Nazis. Aber auch der Begriff »Banalität« sorgte für Irritationen. Der Massenmord konnte wohl aufseiten der Mörder banal sein, nicht aber aufseiten der Ermordeten. Das hat viele Menschen verletzt.
In Hannah Arendts Adressbuch finden sich unterschiedlichste Namen und Institutionen: Rundfunk-, Zeitschriften- und Zeitungs-Redaktionen, ihr geschiedener Mann Günther Anders, die Schriftsteller Ingeborg Bachmann und Rolf Hochhuth, Fritz Bauer, der hessische Generalsstaatsanwalt und Initiator des Auschwitzprozesses, der Philosoph Martin Buber. Und natürlich Martin Heidegger. Arendt hat sich ihre Zuneigung zu ihrem Lehrer und heimlichen Geliebten, der ein unbelehrbarer Nazi war, von niemandem ausreden lassen. Aber das gehört schließlich zum Wesen der Liebe.
Zu den schönsten Begegnungen Hannah Arendts in Europa gehört eine Eisenbahnbekanntschaft. Am 2. März 1950 wird sie im Zug von dem Kölner Kinderarzt Johannes Zilkens angesprochen. Er hat ihren Namen am Kofferanhänger entdeckt. Das war der Beginn einer wunderbaren Freundschaft. Bei jeder Deutschlandlandreise Arendts trafen sich die beiden. Zilkens stammte aus einer alten katholischen Familie in Köln und chauffierte sie durch die Domstadt. Bald verwaltete er ein Konto für die Besucherin aus Amerika und versorgte sie mit deutschen Büchern. Hannah Arendt sagte einmal über ihn: »Mein letzter Flirt.«
In den Anmerkungen zu einer Adresse in Basel erfahren wir, dass Arendt das Ehepaar Jaspers in den Jahren nach dem Krieg mit Medikamenten und Lebensmitteln unterstützt hat. Karl Jaspers gehörte zu ihren ersten Lehrern und ältesten Freunden. Während des Sturms der Entrüstung, der ihr nach Eichmann in Jerusalem Anfang der 60er-Jahre in den Vereinigten Staaten, in Israel und Europa entgegenschlug, als Freunde ihr aus dem Weg gingen, gehörte Jaspers zu den wenigen, die zu ihr hielten und sie öffentlich verteidigten. Er plante sogar ein Buch über seine Schülerin: Das Buch Hannah. In den Notizen dazu findet sich eine Passage über ihr Lachen, das alle Argumente übertönt habe.
Verblüffend, wie ein simples Adressbuch so viele Geschichten erzählen kann. Aber wohl doch kein Wunder, wenn es so liebevoll und sorgsam ediert und kommentiert worden ist. Geschichten zum Beispiel von ehemaligen Studienfreunden, denen sie den Kopf zu waschen verstand, wenn sie sich in der Nazizeit allzu opportunis-tisch verhalten hatten. Erstaunlich: Warum finden wir im Adressbuch keine Spuren von Hannah Arendts Beziehung zu Uwe Johnson? Weil sie in New York so nah beieinander wohnten. Und ein Zettel mit seiner Nummer an der Wand über dem Telefon tat es auch.
1975 ist Hannah Arendt mit 69 Jahren in New York gestorben. Auch ihre letzte Adresse finden wir in diesem schönen Netzwerk, das die Stadtpläne rund um die Welt verbindet. Heinrich Blücher, ihr Mann, hatte am Bard College im Staate New York jahrzehntelang unterrichtet. Im dazugehörigen Park wurde Hannah Arendt beigesetzt.

christine fischer-defoy (hrsg.):
mir ist, als müsste ich mich selbst suchen gehen. hannah arendt – das private adressbuch 1951-975
Köhler & Amelang, 240 S., 24,90 €

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