von Heide Sobotka
Der Morgen beginnt mit Ärger. Gerade hat Dorothee Herkel ihr koscheres Lebensmittelgeschäft »Ma’ayan« geöffnet, schon steht die Köchin des jüdischen Kindergartens auf der Schwelle und beschwert sich über die Milch. Dorothee Herkel hält dagegen. »Sie müssen mit der auskommen, die Sie haben. Neue Milch ordere ich nicht mehr – Ma’ayan schließt am 31. März.« Die Köchin zieht nach einigem Hin und Her ohne Milch von dannen. »So geht das nicht«, schimpft Dorothee Herkel, »monatelang brauchen sie nichts und jetzt stellen sie Ansprüche.« Dennoch: nichts verdient.
Aber dieser Verlust wirft die 32-Jährige nicht mehr um. Bei 100 Euro Umsatz am Tag war ohnehin zumeist Schluss. Auf einem Plakat an der Eingangstür zu ihrem koscheren Lebensmittelladen am Grindelberg in Hamburg ist nun zu lesen: »Liebe Kunden, wir geben zum 31. März unser Geschäft auf. Herzlichen Dank für Ihre Treue.« Die währte nicht lange. Vor knapp zwei Jahren hatten Dorothee Herkels Eltern, Ruth und Michael Lohse, das Experiment gewagt, einen koscheren Laden zu eröffnen. Zwischen der alten Feuerwache, in der heute die SPD Eimsbüttel logiert, und einem Sushi-Imbiss hatten sie einen Standort gefunden. Keine noble Gegend, dafür sind die Ladenmieten niedrig und die jüdische Gemeinde in der Schäferkampsallee nur zwei Häuserblocks entfernt.
Am Anfang gab es noch viel Enthusiasmus und noch mehr Vorschusslorbeeren. »Sie schaffen etwas, was die jüdische Gemeinde nicht vermocht hat«, versicherte der Vorsitzende, Andreas Wankum, zur Eröffnung im Juni 2005. Landesrabbiner Dov-Levy Barsilay und Rabbiner Shlomo Bistritzky von Chabad Lubawitsch übernahmen die Koscher-Aufsicht des Ladens.
Doch jetzt ist Dorothee Herkel tief enttäuscht. Sie sitzt an dem kleinen Bistrotisch in ihrem Laden und redet sich den Frust von der Seele: »Wir sind keineswegs blauäugig an dieses Unternehmen herangegangen.« Die jüdische Gemeinde mit rund 5.000 Mitgliedern und der Kindergarten der Lauder Foundation hätten spontan zugesagt, ihre koscheren Lebensmittel bei »Ma’ayan« zu kaufen.
Außerdem rechneten sie noch mit ein paar Hundert Juden aus den schleswig-holsteinischen Gemeinden Bad Segeberg, Kiel und Flensburg sowie aus Bremen und dem nördlichen Niedersachsen. Für die 60-jährigen Eheleute Michael und Ruth Lohse war das Geschäft eine Herzensangelegenheit. Die ganze Familie wurde eingebunden: Tochter, Schwester, Bekannte, um die Personalkosten so gering wie möglich zu halten. Die Kundschaft schien gesichert, doch die dauerhaften Aufträge aus der Gemeinde blieben aus. In 20 Monaten häuften sich 25.000 Euro Schulden an. Ein Unding?
Für Rabbiner Netanel Teitelbaum aus Köln ist die Schließung eines koscheren Lebensmittelgeschäftes eine Katastrophe. »Wir müssen alles unternehmen, um sie zu unterstützen. Wer einen koscheren Lebensmittelhandel betreibt, ist ein besonderer Mensch. Er will nicht nur Geschäfte machen, er übernimmt eine wichtige Aufgabe im jüdischen Leben und erfüllt ein Gottesgebot.« Das Mitglied der Deutschen Rabbinerkonferenz will vor allem die jüdischen Zuwanderer bestärken, die inzwischen mehr als 85 Prozent der Gemeindemitglieder ausmachen, die Speisegesetze einzuhalten. »Sie müssen unterrichtet werden, wie man sich koscher ernährt.« Dazu müsse es auch entsprechende Angebote geben.
Derzeit scheint das Wissen noch nicht weit verbreitet zu sein. Vor wenigen Monaten musste ein koscherer Handel in Hannover schließen. Viele kleine Läden machen auf und gleich wieder zu, berichtet Zeev Vilf, Besitzer von »Danel Feinkost« in München. Er belieferte »Ma’ayan« in Hamburg und hat von seinem Aus gehört. Auch ihm sei gerade ein Großauftrag geplatzt. Einige Abnehmer planten viel zu kurzfristig, dann müsse man gleich parat stehen und alle Waren liefern können. Mehr schlecht als recht lebe man von dem Geschäft, sagt Vilf. Wie Familie Herkel/Lohse in Hamburg macht auch er vor allem die Gemeinde für den schlechten Absatz von koscheren Waren verantwortlich. »Die setzen uns finanziell unter Druck, indem sie die Waren zu Vorzugspreisen erhalten wollen. Andererseits vermitteln sie ihren Mitgliedern nicht, dass eine koschere Lebenshaltung ein zentraler Bestandteil des Judentums ist«, sagt Vilf. Die jüdische Gemeinschaft werde immer größer, aber die Nachfrage nach koscheren Lebensmitteln schrumpfe. »Die wenigen Juden, die nach der Kaschrut essen, wollen die beste Feinkostqualität zu Aldi-Preisen. Wir haben aber schon die niedrigsten Preise.« Jetzt habe man ihn auch noch mit einer »Exportsteuer« belegt, sagt Vilf, weil er auch in andere Städte außerhalb Münchens liefert. Was ihn am Leben hält? »Danel« sei eingeführt und habe eine treue Stammkundschaft aus besseren Zeiten. »Aber es ist Knochenarbeit, und die Belohnung steht in keinem Verhältnis«, sagt er. Und Vilf weiß, wovon er spricht: Er ist 16 Jahre dabei.
Das »Aviv Frankfurt« besteht schon 30 Jahre. Der Lebensmittelhandel liefert bis nach Skandinavien und Spanien. In Deutschland ist er damit führend in der Branche, aber nicht weniger gebeutelt. Geschäftsführer Akiva Heller sagt, die veränderten Lebensverhältnisse seien schuld am immer schlechteren Umsatz koscherer Waren. »Die meisten wollen doch nur noch in einer Art Koscher-light-Version leben. Diejenigen, die sich wirklich nach allen Regeln koscher versorgen, lassen sich an einer Hand abzählen.« Und: Viele Produkte lassen sich mit der Koscherliste in der Hand in normalen Supermärkten erwerben. »Wer kauft denn einen Joghurt für 1,10 Euro, wenn er einen koscheren für 69 Cent im Kühlregal von Real entdeckt?« Knackige Salate aus Israel? Für viele Juden zu teuer. Die Frischwaren müssen eingeflogen werden. Hinzu kommt die geringe Stückzahl, in der geordert werden kann. »Die Preise müssen wir an die Kunden weitergeben. Das können sich viele Zuwanderer gar nicht leisten«, sagt Heller. »Früher waren die Juden sicherlich auch nicht viel religiöser als heute. Aber die traditionell lebenden haben doch wenigstens noch regelmäßig einen Kiddusch veranstaltet.« Selbst Barmizwa-Feiern sind nach Hellers Erfahrung kein Garant mehr für koschere Bestellungen. »Für die Rabbiner wird ein Exotentisch eingerichtet, der Rest der Gesellschaft lässt sich von irgendwelchen Catering-Firmen die Speisen bringen.«
Maurice Elmaleh leitet das »Kosher Deli« in Berlin seit knapp neun Jahren. Wenn sein Geschäft nicht das koschere Catering für die Gemeinde liefern würde, sähe es auch mit seinem Unternehmen schlecht aus. »Vor den Feiertagen floriert das Geschäft«, sagt Elmaleh. »Aber über’s ganze Jahr gesehen, ist es doch sehr schleppend. Die Leute essen zu wenig koscher.« In der Millionenstadt, in der die jüdischen Gemeinden 12.000 Mitglieder zählen, leben auch viele Juden, die sich keiner Gemeinschaft angeschlossen haben. Hier kann »Kosher Deli« auch noch als Einzelhandel überleben. Er beobachte zwar auch, dass Jahr für Jahr einige Juden zum Kundenkreis hinzukämen, sagt Elmaleh. Im Vergleich zu der wachsenden jüdischen Gemeinschaft sei ihre Zahl jedoch lächerlich gering. Bei ihm kaufen auch einige Nichtjuden ein, die vor allem aus ernährungsphysiologischen Gründen koschere Lebensmittel bevorzugen.
Solche Kunden hat auch Dorothee Herkel in Hamburg. Renate und Erich Janz zum Beispiel. Sie erhielten die Adresse des Ladens von ihrem Arzt in Kiel. Wegen ihrer Laktose-Allergie müssen sie streng darauf achten, dass ihre Nahrungsmittel keine Kuhmilch enthalten. Aus Hamburgs nördlichem Stadtteil Poppenbüttel fährt das Ehepaar quer durch die Stadt, um bei Dorothee Herkel Mozzarella, Streichkäse, Quark und Kekse einzukaufen. »Bei den koscheren Produkten wissen wir hundertprozentig, dass keine Kuhmilch enthalten ist«, sagt Erich Janz. Der Mittsechziger wirkt hilflos, als er von der Geschäftsaufgabe hört. Noch einmal geht er zu dem Kühlregal: Weichkäse und kuhmilchfreies Eis. Von den gefüllten Keksrollen nimmt er alle vier Varianten und dazu noch die Butterkekse mit Cappuccino-Geschmack.
Enttäuscht ist auch Frank von Vigelius. Erst vor einer Woche haben er und seine Frau dieses Geschäft zufällig entdeckt. Seine Frau, Irina Hochman, ist Israelin. Frank von Vigelius deckt sich noch einmal mit dem Nötigsten ein. Zwei Flaschen Rotwein vom Carmel, einige Halbliterflaschen Weißwein für das Abendessen zu zweit. Er schaut sich noch einmal suchend um und findet sein Lieblingsgewürz, »unentbehrlich für alle frischen Salate«, beteuert er. An diesem Vormittag stimmt bei Dorothee Herkel noch einmal die Kasse.