von Rabbiner Boruch Leff
Welch tieferer Sinn steckt hinter der Er-
zeugung eines lauten Schlags mitten in einem heftigen Regensturm?
Yaakov, mein zweijähriger Sohn, stößt bei einem Gewitter, deren es im Sommer viele gibt, einen lauten Schrei aus. Ich nehme an, viele Kids schreien erschrocken auf und flüchten sich in die Arme oder Betten ihrer Eltern. Aber was Yaakov ruft, bringt mich und meine Frau immer zum Lachen: »Es ist ein wunda!« Keiner hat ihm beigebracht, das Wort »Wunder« auszusprechen, sobald er es draußen donnern hört. Aber durch irgendeine Laune des Schick-sals spricht Yaakov das Wort »Donner« als »Wunder« nach. Er meint es zwar nicht so, aber er hat recht: Donner ist in der Tat ein Wunder. Yaakovs Donner/Wunder-Verwechslung brachte mich zum Nachdenken: Was ist dieses laute Donnerkrachen, und warum hat Gott ein so beunruhigendes Geräusch erschaffen, das mitten in einem schweren Gewitter auftaucht?
Wir wollen zunächst erklären, was Donner ist. (Ich entschuldige mich bei all den gescheiteren Lesern, aber bis vor Kurzem war ich ziemlich unwissend über das Phänomen des Donners.)
Donner tritt auf, wenn ein Blitz die Luft um sich aufheizt, wodurch diese Luft sich sehr schnell, ja explosionsartig, ausdehnt. Tatsächlich wird angenommen, dass die Luft um einem Blitz fünfmal so heiß wird wie die Luft an der Oberfläche der Sonne.
Wärme führt dazu, dass Dinge sich ausdehnen; deshalb dehnt sich die Luft aus, wenn der Blitz sie aufheizt. Weil die Ausdehnung in einem so hohen Tempo vonstatten geht, vibriert die Luft und verursacht Wellen. Aus diesen Schallwellen be-
steht das Donnerkrachen, das wir hören. So funktioniert es wissenschaftlich. Aber warum hat Gott den Donner gemacht?
Der Talmud stellt diese Frage und sagt: Der Donner wurde erschaffen, um die Krummheit des Herzens geradezubiegen (Brachot 59a). Was bedeutet das? Und auf welche Weise ist das Herz krumm?
Wir neigen dazu, auf die menschliche Weisheit und Fähigkeit zu vertrauen. An-
gesichts des technologischen Fortschritts blicken wir stolzstrahlend auf ›längst versunkene‹ Generationen zurück – von denen einige vor gerade mal zehn oder zwanzig Jahren lebten –, die keinen Palm Pilot und kein Internet kannten, von den vielen Durchbrüchen in der Medizin ganz zu schweigen. Zuweilen aber setzen wir zu großes Vertrauen in die menschliche Weisheit und vergessen, dass es immer noch Gott ist, der die Welt lenkt.
Wenn es im Leben einen Bereich gibt, den der Mensch nicht beherrschen kann, so ist es das Wetter. Haben Sie sich schon einmal gefragt, warum Nachrichtenagenturen dem Wetter so viel Zeit widmen und so viel Gewicht darauf legen? Es gibt sogar einen Fernsehkanal, der eigens für die Wetter-Berichterstattung eingerichtet wurde!
Ich glaube, der Grund ist der, dass das Wetter ein Teil des Lebens ist, der den Menschen in Angst und Schrecken versetzt, weshalb er davon wie besessen ist. Wir können nichts tun, das Wetter aufzuhalten oder zu ändern. Von tödlichen Wirbelstürmen bis zum Regenguss, der das Picknick im Freien oder die Grillparty ruiniert – der Mensch ist dem Wetter ausgeliefert.
Gott erschuf das Wetter und entwarf das System der zyklischen Regenfälle. Da wir gern vergessen, dass Er es ist, der das Sagen hat, ersann Er einen Mechanismus, um uns daran zu erinnern: den Donner. Wer hat in einem Sturm keine Angst vorm ersten Krachen des Donners? Wer fühlt sich hundertprozentig sicher, als Folge des Gewitters nicht Schaden zu erleiden? Wir betäuben uns und zerstreuen uns, um derlei Gedanken zu vertreiben. Doch im Hinterkopf sind sie da. Der Donner lässt uns erkennen, dass wir im Grunde unser Leben nicht unter Kontrolle haben. Wir existieren nur, weil Gott will, dass wir existieren. Aus diesem Grund, sagt der Talmud, sollten wir, sobald wir einen Donner hören, den Segen sprechen: »Seine (Gottes) Stärke und Macht erfüllt die Welt.« Auf diese Weise wird die »Krummheit« des Herzens geradegebogen. Aber warum erschuf Gott den Donner so, dass er ausgerechnet mitten in einem Gewitter auftritt? Warum nicht zu einer anderen Zeit und mit Hilfe eines anderen Phänomens »die Krummheit geradebiegen«?
Regen bringt Produktivität, er lässt Dinge wachsen und nährt die körperliche Welt. Wir glauben gern, dass wir uns unseren eigenen Gehaltsscheck ausbezahlen, dass wir unser physisches Sein ganz selbstständig erhalten können, dass wir selbst »den Regen bringen«, um in unserem Leben die Blumen hervorzubringen. Doch das ist nicht wahr, und deshalb brauchen wir die Lektion des Donners. Gott ist in Kontrolle, und Er schickt den Regen. Das müssen wir erkennen und Ihm die entsprechende Dankbarkeit zumessen.
Gottes Erscheinung am Sinai war nicht sanft und mild. Der Berg bebte, Blitze er-
hellten den Himmel, Donner krachte, und die göttliche Stimme hallte durch die Galaxis. Die Welt schwieg erschrocken. Die Tora wurde durch ein im wahrsten Sinn des Wortes welterschütterndes Ereignis überreicht. Und die Botschaft ist, dass wir unser eigenes Gefühl der Unbesiegbarkeit erschüttern müssen, um die wahre Quelle unseres Wohlbefindens zu erkennen und es zuzulassen, dass das Wunder des Donners unsere Seele durchdringt.
Abdruck mit freundlicher Genehmigung von Aish HaTorah, www.aish.com