von Rabbinerin Elisa Klapheck
In unserer Parascha steht ein eigenartiger Satz: »Verborgene Dinge sind dem Ewigen, unserem Gott, vorbehalten; offenbare Dinge jedoch sind uns und unseren Kindern vorbehalten ewiglich« (5. Buch Moses 29,28).
Wo aber liegt die Grenze des Offenbaren? Und wo beginnt das dem Menschen unzugängliche Verborgene? Diese Grenze ist in der rabbinischen Literatur immer überschritten worden. Die Kabbala hat ihren eigenen Beitrag zum Offenbarmachen des Verborgenen geleistet. Psychologen, Naturwissenschaftler oder Dichter tun dies auf ihre Weise. Tun wir es nicht alle? Gehört es nicht zum Menschsein schlechthin?
Immerhin stoßen wir bei unseren Versuchen, auch noch das letzte Geheimnis zu entschlüsseln, irgendwann doch wieder an etwas Verborgenes, das sich nicht durchschauen lässt. Jeder trägt etwas Verborgenes in sich, jeder erfährt es am Anderen, jeder erlebt es in der Welt. Dieses Verborgene, für das Gott zuständig ist, verbürgt unsere Freiheit. Es erlaubt uns, einerseits immer wieder Neues aus dem Verborgenen zu vernehmen und es offenbar zu machen. Ande- rerseits verführt es uns auch zur Sünde – zur Übertretung. In diesem paradoxen, sich gegenseitig bedingenden Verhältnis von Verborgenem und Offenbarem, von Versündigung und Freiheit, liegt die unauflösliche Gott-Mensch-Beziehung, auf die uns die Tora ewiglich verpflichtet.
Der rätselhafte Vers 28 am Ende des 29. Kapitels hat viele Toragelehrte beschäftigt. Die Rabbinen im Talmud lasen ihn vor allem im Rahmen von strafrechtlichen Bestimmungen (Sanhedrin 43b). Für unaufgeklärte, im Verborgenen begangene Vergehen sei Gott zuständig, für offenbare Vergehen dagegen die Menschen. Damit gaben sie Antwort auf ein Problem: Wenn ein Einzelner im Herzen Gott abtrünnig werde und heimlich Götzendienst betreibe, werde dann Gott seine in der Tora angedrohten Strafen über das ganze Volk verhängen? Gibt es eine kollektive Bestrafung für eine im Verborgenen begangene, individuelle Sünde? Obwohl die Tora anderes zu sagen scheint, wies der Talmud diese Vorstellung ab. »Die Israeliten werden wegen der im Verborgenen begangenen Sünden nicht bestraft.« Jedoch verpflichte sie dies umso dringender, öffentlich begangene Untaten nicht Gott zu überlassen, sondern sie eigenverantwortlich zu ahnden. Erst wenn eine Gemeinde insgesamt nicht gegen Missetäter einschreite, werde sie kollektiv bestraft.
Raschi (1040-1105) kommentierte: »Wenn ihr sagen solltet, was können wir tun, da du die Gemeinde wegen der Gedanken eines Einzelnen strafst; (…) keiner kennt doch die Geheimnisse des Anderen! Aber ich strafe euch nicht wegen des Verborgenen, das dem Ewigen, unserem Gott, angehört; Er wird jenen Einzelnen strafen; das Offenkundige jedoch gehört uns und unseren Kindern, das Böse aus unserer Mitte wegzuschaffen; und wenn wir gegen solche nicht einschreiten, wird die Gemeinde dafür bestraft.«
Eher psychologisch näherte sich Nachmanides (1194-1270) dem Vers: »Meiner Meinung nach handelt es sich bei den ›verborgenen Dingen‹ um Sünden, die denjenigen verborgen sind, die sie begehen; wie gesagt ist: ›Verirrungen, wer merkt sie? Von verborgenen Sünden reinige mich‹ [Psalm 19,13]. Der Vers besagt: Unsere verborgenen Sünden gehören Gott allein; für sie tragen wir keine Schuld, dass wir uns unbewusst vergangen haben. Aber für die Dinge, die offenbar sind, nämlich unsere bewusst begangenen Sünden, sind wir und unsere Kinder ewiglich verantwortlich ...«
Wir lesen diesen Vers im Monat Elul, in einer Zeit der inneren Einkehr, wenige Tage vor den Jamim Noraim. Lange bevor die Psychologie erfunden wurde, haben die Rabbinen versucht, den Grenzbereich zwischen Offenbarem und Verborgenem auszuloten. Sie fassten ihn anhand der Frage nach der Verantwortung. Die Sühnerituale des Judentums bieten einen Rahmen, sich auch auf das Verborgene einzulassen und sich manches eigenen inneren Abgrunds bewusst zu werden. Doch von der Sekunde an, da er offenbar ist, wird man auch verantwortlich, ist nicht mehr Gott zuständig.
Auch wenn das Verborgene Gott vorbehalten ist, bleibt es eine Herausforderung für uns, es offenbar werden zu lassen. Aber damit erweitert sich unsere Verantwortung auf das, wofür wir Menschen zuständig sind. Um Verantwortung, vor allem um Verantwortung geht es in der Tora. Verantwortung aber ist im Judentum ein Synonym für Freiheit. Hier erlangen wir sie in der paradoxen Beziehung von Verborgenem und Offenbarem: in der Gott-Mensch-Beziehung, die, je tiefer wir uns auf sie einlassen, in die Beziehung der Menschen un- tereinander hineingreift und uns füreinander verantwortlich werden lässt.
Die Autorin ist Rabbinerin der Gemeinde Beit Ha’Chidush in Amsterdam und des Egalitären Minjans in Frankfurt am Main.