Anfangs wirkt alles wie am Schabbat. Die vier wuchtigen Kronleuchter tauchen den Saal in ein feierliches Licht. Grüppchen von Menschen füllen fröhlich plaudernd den Innenraum. Und auch die Kantorin ist wohlbekannt. Doch heute tritt Avitall Gerstetter nicht als Vorbeterin vor die Ge-
meinde, sondern als Popsängerin in schwarzem Abendkleid, begleitet von der fünfköpfigen Dominic Miller Band. Ein Novum für Deutschlands größte Synagoge, die ihre Tauglichkeit für nichtreligiöse Konzerte unter Beweis stellen musste.
Dass Europas erste Kantorin einen Ausflug in die Gefilde des Pop unternimmt, ist keine Ausnahme. Schon auf ihrem letzten Album »Walking the Corniche« hat sie Songs gesungen, die ihr friedensstiftendes Engagement verrieten. Mit ihrem eben erst fertiggestellten Album »We will remember them«, das sie dem Berliner Publikum erstmals präsentierte, knüpfte die Sängerin an diese Tradition an. Neben eingängigen Ei-
genkompositionen wurden Hits in Hebrä-
isch, Jiddisch und Englisch gesungen.
Eingespielt hat Avitall Gerstetter das Album mit Musikern der Dominic Miller Band, die die zierliche Frau mit der roten Löwenmähne auch beim Konzert am vergangenen Donnerstag begleiteten. In exakt der Besetzung des Konzertes spielte die Band allerdings das erste Mal zusammen, wie die Sängerin verriet. Neu dabei war der Saxofonist und Flötist Norbert Nagel, der an der Seite vom indischen Percussionisten Rhani Krija, dem Bassgitarristen Nicolas Fiszman und dem Pianisten Mike Lindup auftrat, Insidern bekannt als Gründungsmitglied der Band Level 42. Gemeinsam mit dem Gitarristen Dominic Miller, der durch die langjährige Zusammenarbeit mit Sting berühmt wurde, war also viel Manpower auf der Bühne. Und wie üblich hat Avitall Gerstetter strahlend schön gesungen, egal ob beim israelischen Hit »Erev Shel Shoshanim«, bei »Fields of Gold« von Sting oder den jiddischen Gassenhauern »Mamele« und »Wiegele, Wiegele«. Beste Voraussetzungen also für einen rauschenden Abend.
Trotzdem wollte der Funke auf die rund 300 Besucher lange Zeit nicht überspringen. Ein auf Erhabenheit abzielender Synagogenraum lädt eben nicht zum »Partymachen« ein. Auffallend war übrigens, dass nur jene Männer, die die Synagoge normalerweise zum Beten betreten, überhaupt die Kippa trugen, während die andere Hälfte den »Brauch« missachtete. So wurde das Tragen der Kopfbedeckung ge-
radezu zum Symbol für die Stimmungslage dieses Konzerts. Haben etwa die einen ein religiöses Konzert und die anderen ein Popkonzert erwartet? Am Schluss jedenfalls gab es vom gesamten Publikum stehende Ovationen und Blumensträuße für eine großartige Sängerin. Das war dann weder eine Frage der Perspektive noch eine Frage der Kippa. Jonathan Scheiner
Musik