Ganz Deutschland diskutiert über das neonazistische Flugblatt, von dem, Hand aufs Herz, immer noch nicht klar ist, ob es Hubert Aiwanger oder wirklich »nur« sein Bruder verfasst hat. Auf dem Flugblatt kommt eine Verhöhnung aller Schoa-Opfer zum Ausdruck, die schockiert. Meine Verwandtschaft auf der Seite meiner Mutter wurde von den Nazis ermordet. Ich selbst habe das KZ Theresienstadt überlebt.
Auch deshalb berührt mich die entstandene Debatte sehr. Der Fall Aiwanger hat erneut klargemacht: Es gilt heute, die Verbrechen und die Verantwortung der Nazis besonders der Jugend bewusst zu machen.
Vertuschung Die Aussagen des Vizeministerpräsidenten von Bayern sind aufschlussreich: Er hat angeblich kaum Erinnerung an das, was geschehen ist, streitet aber alles ab. Dies ist eine Strategie der Vertuschung und Bagatellisierung. Mit dem Vorwurf einer »Schmutzkampagne« gegen Medien und Gegner vollzieht er eine Täter-Opfer-Umkehr.
In seiner Erklärung hat Aiwanger lediglich auf unübersehbare Beweise reagiert und sich für die Verletzung von Gefühlen entschuldigt. Ich nehme ihm diese Entschuldigung überhaupt nicht ab, auch weil es so lange gedauert hat, bis er die zitierten Sätze überhaupt gesagt hat.
Es ist zudem enttäuschend, dass Ministerpräsident Söder keine konsequentere Entscheidung getroffen hat. Denn Hubert Aiwanger ist nicht mehr glaubwürdig – und nach meiner Auffassung für das Amt des stellvertretenden Ministerpräsidenten politisch und moralisch überhaupt nicht mehr geeignet.
Bald sind Wahlen in Bayern, und Söder hat offenbar die Sorge, dass die Freien Wähler durch das Verhalten von Aiwanger mehr Stimmen bekommen und dass sie sich diese nicht nur von ganz rechts, sondern auch von der CSU holen könnten. Das verstehe ich, habe jedoch etwas anderes erwartet – nämlich dass er Hubert Aiwanger von seinen Aufgaben entbindet. Noch angemessener wäre ein Rücktritt Aiwangers. Dies wäre wenigstens ein Akt, den man ihm abnehmen könnte.
Der Autor lebt in München und ist Präsident der Lagergemeinschaft Dachau.