von Rabbiner Joel Berger
Ich bin leidenschaftlicher Fußballfan. Mein Herz schlägt für Werder Bremen, und ich versäume kein Spiel. Auch wenn mich bei der Fußballweltmeisterschaft bislang noch kein Spiel vom Hocker gerissen hat, die Spiele der deutschen Mannschaft möchte ich gern sehen, auch das um den dritten WM-Platz am Samstag. Den Fernseher dafür einzuschalten, wäre für mich aber ein Verstoß gegen die Ruhegebote.
Vor einem solchen Problem stand ich vor zwei Wochen, als am Schabbat Deutschland gegen Schweden spielte. An diesem Samstagnachmittag sollte ich keine Ruhe finden. Kaum waren wir am Ende unserer Schabbatmahlzeit angelangt und hatten die Semirot-Lieder angestimmt, ertönte vom Marktplatz her, wo die Großleinwände aufgestellt waren, laute Musik, mit der die Fans »heiß« gemacht werden sollten.
Wehmütig erinnerte ich mich daran, daß man bei Bundesliga-Spielen niemals auf die im Semirot-Text gerühmte »Oneg«, die Wonne des Schabbats, einschließlich des ebenso gelobten Nachmittagsschlafs verzichten muß. Wenn ich dann zum Minchagebet und zur Seudat Schlischit gehe, flüstern mir stets einige gut informierte Gemeindemitglieder zu, wie Werder Bremen nachmittags gespielt hat.
Aber jetzt ist Weltmeisterschaft. Im Treppenhaus fragt mich mein Nachbar vor dem Spiel gegen Schweden: »Na, wie lautet Ihre Prognose?« »Ich tippe nicht, das macht immer meine Frau, wenn sie die Mannschaftsaufstellung erfährt«, antworte ich. Da das den Mann sichtbar konsterniert, sage ich schnell: »Deutschland gewinnt!« und er wünscht mir viel Spaß.
Als er mich kurz vor 17 Uhr auf der Terrasse liegen sieht, ruft er mir aufgeregt zu: »Das Spiel beginnt, Sie werden was versäumen.« »Ich habe den Bildschirm dort in der Wohnung gegenüber im Blickwinkel. Aber was ist mit Ihnen?«, frage ich, denn er steht rauchend auf dem Balkon. »Keine Sorge, aber im Zimmer darf ich nicht qualmen.« »Jetzt rollt schon der Ball«, sage ich. »Aber bei Ihnen ohne Ton«, wendet er ein. »Wer braucht hier einen Ton? Im Studentenheim nebenan brüllen sie schon vor der Großleinwand.« Und da sei auch schon ein Tor gefallen, jubelt mein Nachbar und geht in die Wohnung.
In der Pause kommt er wieder: »Ein großartiges Spiel, der Lukas Podolski ist Spitze!« Dann fragt er schelmisch: »Und wenn die Schweden ein Tor schießen, wie erfahren Sie das?« »Die Studenten nebenan haben Gäste aus Malmö. Die werden sich schon bemerkbar machen. Heute vormittag habe ich sie auf der Straße getroffen. Sie haben mich gefragt, wo man hier Cognac bekommen könnte? Ich hab’ sie auf den Supermarkt verwiesen und gesagt, daß sie hier nicht einmal ihre Ausweise benötigen, so wie zu Hause in Schweden.«
Nach Spielende läßt sich mein Nachbar nicht mehr auf dem Balkon blicken. Vermutlich hatte der prachtvolle Sieg seine Frau dem Rauchen gegenüber milde gestimmt. Doch auch ohne ihn wußte ich Bescheid. Der Hupkorso auf der Straße zeigte mir, wer gewonnen hatte. Wie wird das erst am nächsten Samstag, wenn Deutschland hier in Stuttgart um Platz 3 spielt?
Der Autor amtierte in Göteborg, Bremen und viele Jahre als Landesrabbiner in Stuttgart.