von Hannes Stein
Was mit Muslimen nach dem Tod passiert, die sich hienieden Verdienste erworben haben, wissen wir dank der Abendnachrichten: 72 Huris. Aber ob das wirklich »Jungfrauen« oder doch nur »Weintrauben« bedeutet, darüber streiten die Gelehrten noch. Christen jedenfalls steigen in den Himmel auf, wo sie die Harfe schlagen und unentwegt »Halleluja« singen. Und Juden haben, wenn sie in diesem Leben nicht zu viel falsch gemacht haben, Anteil an der »Olam ha-ba«, der Welt, die da kommen wird. Leider haben uns die Rabbanim über sie wenig Genaues mitzuteilen – außer, dass es Gefilte Fisch zu essen gibt, pfui Teufel. Und was ist mit den Russen?
Ich habe meine eigene Theorie: Russen – seien sie nun Juden oder Christen – kommen nach Brighton Beach. Sie haben es dabei deutlich besser als der Rest von uns, denn um nach Brighton Beach zu gelangen, muss man noch nicht einmal sterben. Man steigt einfach in Manhattan in die Subway, rumpelt über die Brücke nach Brooklyn, und dann bleibt man beinhart sitzen, während der Zug immer weiter downtown, downtown, downtown rollt. Kurz vor Coney Island steigt man aus.
Die Eisenträger der Bahn stehen hier breitbeinig über dem Autoverkehr, die Geleise folgen oberirdisch dem Verlauf der Straße. Über eine schmale Treppe steigt man nach unten zum Ausgang der Bahnstation. Schon auf diesem kurzen Weg hört man nur die Sprache von Tolstoi und Lermontow (na schön, ein bisschen Polnisch mag auch dabeisein). Die Aufschriften an den Geschäften sind sowieso alle Kyrillisch. Furchterregend blonde Mädels gehen mit ihren in die Breite gewachsenen Müttern spazieren, die ihnen mitten auf der Straße Vorträge halten, warum sie den jungen Mann, der ein Auge auf sie geworfen hat, unmöglich heiraten können. Vielleicht reden sie aber auch nur über das Fernsehprogramm von gestern Abend. Was weiß ich denn, ich verstehe kein Wort außer »Nitschewo«.
Brighton Beach versammelt alle Vorteile jener Orte, an denen Russen – vor allem jüdische Russen – sich gern aufhalten, ohne dass man dafür die einschlägigen Nachteile in Kauf nehmen müsste.
Erstens: Man kann hier genauso weiterleben, wie man es früher in Moskau oder St. Petersburg getan hat. Mit ein bisschen Glück (oder Pech, je nachdem) hat man sogar wieder die alten Nachbarn. Aber man wird nicht von Putin regiert. Im Grunde wird man überhaupt nicht regiert, denn dies ist Amerika. Hier macht die Regierung die Außenpolitik, außerdem gibt es ein paar fundamentale Dienste wie Polizei und Feuerwehr – das war es schon. Wenn man morgens ins Büro geht, muss man nicht fürchten, dass einem als Vorgesetzter ein Typ gegenübersitzt, den man noch gut aus der Zeit kennt, als er noch beim KGB Karriere machte, und breit grinsend die Zähne bleckt.
Zweitens: Es gibt einen richtig schönen Winter, wo man in die Sauna, pardon: Banja gehen kann. Irgendwann erreicht die Kälte sogar sibirische Dimensionen! Aber die Sache dauert nicht halb so lang wie in der Narodna, der alten Heimat. Das heißt, es besteht nicht die Gefahr, dass man depressiv wird, und deshalb besteht auch nicht die Notwendigkeit, sich zu betrinken. Sagen wir es so: Der Winter hat gerade die richtige Dauer, dass man die Zehen seiner Seele hineinstecken kann, um sich wie zu Hause zu fühlen – und dann kommt auch schon der Frühling.
Drittens: Gleich neben der U-Bahnstation liegt der Strand. Meilenweite Spazierwege aus Holzplanken am Atlantik. Das Ganze ist mindestens so schön wie die Tajelet in Bat Jam, südlich von Tel Aviv. Aber Brighton Beach hat gegenüber Bat Jam zwei Vorzüge, die gar nicht hoch genug geschätzt werden können: a) keine Araber, und b) keine Israelis. Niemand sprengt sich hier mit dem Ruf »Allahu akhbar« in die Luft, man kann seine Kinder also unbesorgt zum Klavierunterricht schicken. Und man muss nicht Hebräisch radebrechen. Im Supermarkt wird man nicht scheel von Misrachim aus Marokko angeschaut, nur weil man zur Feier des Schabbat Schweineschnitzel aus der Kühltruhe holt. Man kann sogar mit einem riesengoldenen Davidstern am Halskettchen losgehen, um einen künstlichen Lamettaweihnachtsbaum zu erstehen. In Brighton Beach ist das völlig normal.
Das Beste aber sind die Lebensmittelläden. Sie bieten eine Auswahl, die es an keinem anderen Ort der Welt gibt: russische Produkte, polnische Produkte und israelische Produkte. Hier bekommt man Kwass in der Dose, gleich daneben im Regal steht israelisches Malzbier. Tvorog, süßlichfetter Käse, hergestellt von Mennoniten in Philadelphia. Blini, Pelmeni und Piroggen. Borschtsch im Glas und Smetana, dicke saure Sahne. Kaviar und als absoluter Höhepunkt: Kascha in einer Schachtel mit hebräischem Aufdruck. Mein persönlicher Lieblingsladen bietet eine ganze Wand lang getrocknete Früchte feil: Cranberrys, Himbeeren, Orangenscheiben. In der Mitte aber türmen sich Pralinenschachteln aus Riga und St. Petersburg. Man möchte sich arm kaufen und fett fressen.
In einem anderen Geschäft kann man sich heiße Blini mit verschiedenen Füllungen abwiegen lassen: Kartoffel, Apfel, Rosinen. Trägt man den Pappteller mit seinen Blini auf eine Dachterasse und verspeist sie dort und stellt fest: Sie sind ganz und gar köstlich – dann weiß man: Ich bin offenbar im Himmelreich gelandet.
Das Nächstbeste an Brighton Beach ist das Café Arbat. (Sie dachten doch nicht im Ernst, lieber Leser, dass ein Café hier anders heißen könnte.) Im Halbdämmer kann man stundenlang herumsitzen und sich an der immergleichen Tasse Tee festklammern. Am Nebentisch sind zwei Schachspieler etwa seit Ausbruch der Februarrevolution in dieselbe Partie vertieft. Der eine heißt Petrosjan, der andere Himmelfarb, es handelt sich also um waschechte Moskowiter. Und weil Brighton Beach das russische Paradies ist, könnte jederzeit die Tür aufgehen, und plötzlich schlendert Bulat Okudschawa herein, packt sein Wimmerholz aus und fängt an zu singen: »A kak perwaja ljubow …« Oder Joseph Brodsky kommt eben schnell auf einen Sprung aus Manhattan herüber, nimmt ein sauber mit Schreibmaschine beschriebenes Blatt aus der Jackentasche, setzt die Brille auf die Nase und trägt vor: Jetzt bin ich vierzig. / Was soll ich über mein Leben sagen? Dass es lang ist und die Transparenz verabscheut. / Zerbrochene Eier lassen mich trauern, das Omelette hingegen bringt mich zum Kotzen. / Aber bis man mir braunen Lehm in den Kehlkopf stopft / Wird sich aus ihm nichts ergießen als Dankbarkeit.
Soll das heißen, dass Brighton Beach keine Schattenseiten hat? Nebbich: Wohnen kann man hier nicht. Es gibt kein noch so finsteres Kellerloch, das man mieten könnte – jedenfalls nicht auf dem offenen Markt –, und wer eines der netten kleinen Häuser in den Nebenstraßen kaufen wollte, der müsste erst einmal Fort Knox überfallen. Aber wäre es nicht schrecklich unbescheiden, vom Paradies zu verlangen, dass man sich dort ansiedeln kann? Genügt es denn nicht, gelegentlich mit der Subway hinzufahren?