von Andrea von Fournier
Als Werner Wolf* noch in Australien lebte, befand sich an seiner Haustür selbstverständlich eine Mesusa. Über ein Vierteljahrhundert verbrachte der gebürtige Berliner auf der anderen Seite des Globus. Er arbeitete dort als Mechaniker und gründete eine Familie. Krieg und Holocaust hatte der Junge in der Gegend um den Hausvogteiplatz in Berlin miterlebt. Sein Wohnhaus wurde zerstört, fortan zog er mit seiner jüdischen Mutter durch die Stadt, immer auf der Suche nach Verstecken – und überlebte. Anfang der 50er Jahre verließ er Deutschland – die wirtschaftliche Situation zwang ihn dazu. Fünfundzwanzig Jahre später kam Wolf in sein Heimatland zurück. 1990 zog er an den nördlichen Rand der Hauptstadt, nach Bernau, ein beschauliches Städtchen mit rund 36.000 Einwohnern.
Viele Juden gab es in Bernau nie. Vor 1700 lebten drei jüdische Familien hier. 1885 weisen die sogenannten Seelenlisten 29 Personen jüdischen Glaubens aus. Es gab eine Synagoge, doch Ende des 19. Jahrhunderts richtete sich hier eine Werkstatt ein. Das Gotteshaus wurde nicht mehr benötigt, da man die erforderlichen zehn Männer für einen Minjan in Bernau nicht mehr zusammenbrachte.
Während der NS-Zeit befand sich im Ort eine der wichtigsten Kaderschmieden des braunen Regimes: die »Reichsführerschule«, später die »SD-Führerschule«. Hier wurden fanatische Deutsche in Propagandakursen und Lehrgängen auf ihre »späteren Aufgaben« bei der Vernichtung von Juden vorbereitet.
Nach dem Holocaust findet sich für Jahrzehnte kein Hinweis mehr auf jüdisches Leben in Bernau. Traurige Berühmtheit erlangte der Ort in den vergangenen Jahren. Mehrfach berichteten die Medien über Gewalt von rechts und Nazischmierereien. Solche Ereignisse bringen Werner Wolf völlig aus der Fassung. Zu nahe sind seine Erinnerungen aus der Nazi-Verfolgung. Das kommt ihm alles so bekannt vor, er hat das Gefühl und die große Angst, es könne jederzeit wieder geschehen. »Ich fühle mich dann regelrecht unsicher, gehe nicht aus dem Haus. Und ich frage mich, warum niemand dieses Treiben stoppt«, sagt der Mann, der seinen wahren Namen lieber verschweigen will. Seit Jahren gehört er der Jüdischen Gemeinde im Landkreis Barnim an, die sich vor zehn Jahren hier offiziell gründete.
Die meisten der fast 400 Barnimer Juden leben in Bernau, einige wenige in Eberswalde und Berlin. Es sind fast ausnahmslos jüdische Zuwanderer aus den Ländern der ehemaligen Sowjetunion. Für diese »Zentralisation« hat sich die Gemeindevorsitzende Diana Pshemetska stark gemacht. Sie setzt sich bei der Wohnungsbaugesellschaft dafür ein, dass die Zuwan- derer im Ort eine Bleibe finden.
Pshemetska handelt aus Erfahrung. Als sie 1995 Jahren mit ihren drei Kindern aus Dnjepropetrowsk nach Deutschland kam, stand ihr eine schwere Zeit bevor. Lange wohnte sie mit ihrer Familie in einem Ausländerwohnheim.
Als 1997 weitere jüdische Zuwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion in die Region kamen, schloss sich Pshemetska mit ihnen zusammen, und sie wurden gemeinsam aktiv. Pshemetska hatte sich inzwischen Grundkenntnisse der deutschen Sprache und deutscher Gesetze angeeignet. Die Gespräche der Barnimer Zuwanderer mit der jüdischen Gemeinde Potsdam – sie war damals die einzige in Brandenburg –, führten zur Gründung der Jüdischen Gemeinde Landkreis Barnim. Hier, in der Oranienburger Straße, finden jüdische Zuwanderer Angebote zur Hilfe und Selbsthilfe, zur Ausübung von Religion und Kultur. Manche Programme richten sich eigens an die Mitglieder der jüdischen Gemeinde, andere stehen allen russischsprachigen Zuwanderern offen.
»An erster Stelle steht bei uns nach wie vor das Erlernen der deutschen Sprache«, erläutert Pshemetska die Aufgaben der Gemeinde. Sie hebt hervor, dass sie im Laufe der Jahre viele »Verbündete« in der Stadtverwaltung und bei Wohnungsbaugenossenschaften gewonnen hat, ohne deren Einsatz und Willen zur Zusammenarbeit das heute bestehende Netzwerk nie hätte geknüpft werden können. Den Gemeindevorstand – vier Männer und drei Frauen – lobt sie als gutes Team. »Neben den vielen Verwaltungsarbeiten wollen wir ja vor allem wieder jüdisches Leben entfalten. Religiöse Traditionen und Bräuche müssen neu erlernt werden, fast wie die deutsche Sprache«, erklärt Pshemetska und lacht.
Die jüdischen Traditionen stellen Werner Wolf nicht vor Probleme, auch auf dem fünften Kontinent gehörte der heute 75-Jährige einer jüdischen Gemeinde an. Wolfs größtes Problem heute besteht darin, dass er den zumeist russischsprachigen Gemeindeveranstaltungen kaum folgen kann. Dazu kommt eine Polyarthritis, die ihn von Zeit zu Zeit an den Rollstuhl fesselt. Die Gemeinde weiß um Wolfs Probleme. Man bemüht sich, ihn zu integrieren, ihn zu besuchen und ihm zu helfen, wo es geht. Wolf erkennt die Anstrengungen an und freut sich über die Zuwendung. Aber die Angst vor Neonazis kann ihm die Gemeinde nicht nehmen. Und so hat er seine Mesusa sicherheitshalber im Korridor befestigt.
* Name von der Redaktion geändert.