von Detlev Claußen
Am 1. Januar 1962 erlischt der Glanz von Real Madrid in der Ära der Weltstars Alfredo di Stefano und Ferenc Puskas. Obwohl Titelverteidiger, ist Benfica Lissabon im Europacupfinale der große Außenseiter – doch die Portugiesen gewinnen 5:3. Sie beenden die spanische Dominanz im europäischen Klubfußball, mit dem zweifachen Torschützen Eusebio wird ein neuer Star geboren. Doch was ist das Geheimnis dieses Teams? Es kann nur der Trainer sein: Béla Guttmann, der »alte Fuchs«. Das etablierte Fußballeuropa steht ihm nach diesem Triumph offen. Aber auf dem Höhepunkt seiner Trainerkarriere kündigt er und verschwindet nach Südamerika. Schon daß er drei Jahre bei Benfica geblieben war, widersprach seinen Gewohnheiten. Normalerweise verläßt er einen Verein nach spätestens zwei Jahren. Er will selbst bestimmen, wann er geht. Hinter dem listenreichen Lächeln dieses Mannes verbirgt sich die aufregende Lebensgeschichte eines jüdischen Migranten, in der sich das 20. Jahrhundert ebenso spiegelt wie die wechselvolle Geschichte des Weltfußballs. »In seiner aktiven Zeit war er ein Spieler von überragender Klasse, geschult und erfahren auf dem Gebiet zielstrebiger Trainingsmethoden, gereift und geschliffen in unzähligen Wettkämpfen auf allen Fußballfeldern der Welt«, sagte Sepp Herberger über ihn.
Béla Guttmann hatte das Fußballspielen in Budapest erlernt. 1899 in einem assimilierten jüdischen Elternhaus als Sohn von Tanzlehrern geboren, ermöglichte Fußball als Inbegriff von »english sports« in einem guten Klub gesellschaftlichen Aufstieg. Guttmann wuchs in den Budapester MTK-Fußball mit seinem technisch orientierten Angriffsstil hinein. Seine ersten Chancen bekam der junge Spieler während des Ersten Weltkriegs, Berufungen in die Nationalmannschaft des unabhängig gewordenen Ungarn folgten. Nachkriegswirren und Räterepublik führten zum Auszug vieler ungarischer Fußballer nach Wien. Zwei einschneidende Ereignisse begünstigten diese Abwanderung: die Einführung des Professionalismus und der Aufstieg des jüdischen Fußballs in der Donaumetropole. 1925 wurde Guttmann mit der Wiener Hakoah, verstärkt durch mehrere jüdisch-ungarische Spieler, erster österreichischer Fußballmeister der Profiära. Wie die anderen jungen Profivereine unternahm Hakoah Welttourneen, um Geld zu verdienen. Das Gastspiel in den USA war eine Sensation. In New York spielten sie vor 46.000 Zuschauern. Es war das Golden Age des amerikanischen Profifußballs, in dem jüdische Klubs und Zuschauer eine wichtige Rolle spielten.
Wie andere Spieler bleibt Guttmann danach in Amerika. Er investiert sein Geld in einen riesigen Barbetrieb in Manhattan. Doch der Schwarze Freitag vernichtet alle Ersparnisse. Auch die Soccer League wird von der Weltwirtschaftskrise getroffen, Guttmann beendet 1923 seine Spielerkarriere. Er kehrt 1933 nach Europa zurück, um Trainer zu werden. Nach einem wenig erfolgreichen Beginn bei der Hakoah geht Guttmann 1936 nach Enschede. Mit dem niederländischen Provinzverein gelingen ihm durch intensive Trainingsarbeit und psychologische Betreuung überraschende Erfolge. Nach zweijähriger Lehrzeit kehrt er zur Hakoah zurück. Ein neuer Aufstieg beginnt, der durch den »Anschluß« Österreichs ans Deutsche Reich 1938 abrupt gestoppt wird. Guttmann kehrt nach Buda- pest zurück, wo er Ujpest übernimmt, mit begeisterndem Angriffsfußball ungarischer Meister wird und den wichtigsten internationalen Vereinswettbewerb der Zwischenkriegszeit, den Mitropa Cup, gewinnt. Mit Beginn des Kriegs taucht er unter. Noch ist nicht geklärt, ob er in Ungarn, USA, Lateinamerika oder gar Palästina überlebte. Sein Bruder kommt in einem KZ um.
1945 taucht Guttmann wieder auf. In den unübersichtlichen Nachkriegsverhältnissen, in der dubiose Mäzene das Fußballgeschäft bestimmen, arbeitet er zunächst in Rumänien, dann in Budapest. Ungarn steht am Beginn einer fußballerischen Blüte, aus der die Wundermannschaft um Puskas hervorgegangen ist. Guttmanns und Puskas’ Wege kreuzen sich. Guttmann betreut zwischen 1947 und 1949 Budapester Spitzenvereine und die Nationalmannschaft. Er legt ein kompromißloses Verhalten gegenüber Vereinsbossen, Stars und Funktionären an den Tag, kündigt, wenn ihm etwas nicht paßt. Im stalinistischen Ungarn mit seinen Staatsamateuren ist für den überzeugten Profi kein Platz. Er geht nach Italien. Doch die dortige Profiwelt ist durchzogen von Korruption, Intrigen und Futter- neid. Abenteuerliche Stationen führen ihn nach Padua, Triest, Mailand und Viczenza, unterbrochen durch ein Gastspiel im Fußballabseits Nikosia. Beim AC Milan wird er durch eine Verschwörung im Verein um die zu erwartende Meisterschaft 1955 betrogen. Den 1956 nach dem Aufstand geflohenen ungarischen Spielern um Puskas verhilft er als Trainer zu einer Welttournee durch die kapitalistische Fußballwelt. Seine Kontakte in Lateinamerika frischen dabei auf, 1957 wird er Trainer beim FC Sao Paulo und wirkt an der Transformation des brasilianischen Fußballs entscheidend mit. »Guttmann lehrte die Brasilianer eine für sie revolutionäre Taktik, er brachte damit eine Extrafarbe in ihren Fußball«, sagte Puskas über diese Zeit. Kein Wunder: Das neue 4-2-4-System, mit dem Brasilien 1958 umjubelter Weltmeister wird, erinnert stark an das Spiel, das vom Budapester MTK gespielt, dann von der ungarischen Wundermannschaft weiterentwickelt wurde.
Mit diesem Reichtum an internationalen Erfahrungen kehrt Béla Guttmann 1958 nach Europa zurück, wird mit Porto portugiesischer Meister, läßt sich von Benfica abwerben. »In meiner langen Laufbahn habe ich viele Länder bereist und in einigen auch gearbeitet. Wenn ich irgendwo im Fußball etwas Gutes sah, das habe ich sofort gestohlen und für mich behalten. Nach einer Weile mixte ich mir einen eigenen Cocktail von diesen gestohlenen Delikatessen«, hat Guttmann einmal über sein Erfolgsgeheimnis gesagt. In drei sensationellen Jahren in Lissabon kommt es voll zur Geltung. 1960 gewinnt er Pokal und Meisterschaft in Portugal, 1961 und 1962 den Europapokal. Ben- fica gilt als sein Meisterstück. Auf dem Höhepunkt jedoch wandert er nach Argentinien und Uruguay ab, springt später als Nationaltrainer in Österreich ein, versucht sich in Genf, Athen und Porto. Aber die Erfolge kommen nicht mehr wie einst. »Im Fußball gibt es Erfoge und Mißerfolge«, sagte Guttmann. »Auch die berühmtesten Ärzte der Weltgeschichte haben noch kein sicheres Mittel gegen das Sterben erfunden. Genauso ist es bei den Fußballtrainern, die sich auf der internationalen Bühne bewegen: Niemand hat ein Allheilmittel gegen Mißerfolge.« Den Lebensabend verbringt er in Wien, wo Béla Guttmann 1981 stirbt.
Sein Leben läßt sich exemplarisch verstehen. Der Aufstieg eines Außenseiters, die Energie, mit der etablierte Rangordnungen umgestürzt werden, die Konflikte, mit denen einer rechnen muß, der Unabhängigkeit erringen will. Die großen gesellschaftlichen Veränderungen des 20. Jahrhunderts bestimmen den Lebensplan oft wider Willen mit: die Auflösung Österreich-Ungarns, Wien als Metropole der Zwischenkriegszeit, Auseinandersetzungen um Judentum und Bedrohung durch Antisemi- tismus, Amerika als Hoffnung für Millionen, Privilegienwirtschaft, Schrecken und Untergang des sozialistischen Systems.
Béla Guttmann, der vom und für den Fußball lebte, erlebt die Geschichte des sich globalisierenden Profifußballs als Pionier. Den Beruf des Trainers als anerkannter Fußballfachmann mit geldwertem Wissen hat er mit unerbittlicher Konsequenz zu etablieren versucht. Die Integration von Europa und Lateinamerika vollbringt er in einer Person; die Offenheit für Neues und neue Elemente im Fußball hat ihn nicht verlassen. Er begreift in den fünfziger und frühen sechziger Jahren das Potential des jungen Pélé und versteht es, Spieler aus den portugiesischen Kolonien wie Eusebio, den späteren Weltstar, aufzubauen. Für die Welt der weißen Honoratioren waren sie ein Schrecken, für den Profi Guttmann ein weiterer Anlaß, auf das Neue zu setzen.
Von Detlev Claussen ist erschienen: »Béla Guttmann. Weltgeschichte des Fußballs in einer Person«, Berenberg, Berlin 2006.