In einer bis auf den letzten Platz ausgebuchten Veranstaltung – die Zuhörer drängten sich noch auf den Treppenstufen – wurde kürzlich in Jerusalem der Philosoph und Essayist Isaiah Berlin gewürdigt. Anlass war der 100. Geburtstag des 1909 in Riga geborenen Intellektuellen (vgl. JA vom 4. Juni), der sich selbst als russischen Juden beschrieb und doch in der »Englishness« Oxfords heimisch war. »Freiheit, Identität und Zionismus im Denken Sir Isaiah Berlins« war der Titel des eintägigen Symposiums im Konferenzzentrum Mishkenot Sha’ananim, das sich zum Ziel gesetzt hatte, dem unorthodoxen Theoretiker und Verfechter eines humanen Liberalismus ebenso gerecht zu werden wie dem musik- und literaturverliebten Menschen Berlin.
Die Organisatoren Ruth Cheshin (Jerusalem Foundation) und Uri Dromi (Mishkenot Sha’ananim) gaben mit persönlichen Eindrücken von Begegnungen mit Isaiah Berlin den Ton für die folgenden Beiträge vor. Die Spannung zwischen dem Zionismus Berlins und seiner vehementen Skepsis gegenüber nationalistischem wie utopischem Denken bildete den Leitgedanken, unter dem die Kernthemen Berlins – seine Gegenüberstellung negativer und positiver Freiheit, seine Beschäftigung mit Aufklärung und Gegenaufklärung, Wertepluralismus – diskutiert wurden.
Nach einem Grußwort des britischen Botschafters in Israel, Tom Phillips, skizzierten Berlins Herausgeber Henry Hardy und die Historikerin Fania Oz-Salzbergermit wenigen Strichen Facetten der Persönlichkeit Berlins. Oz-Salzberger berichtete von einem ihrer letzten Besuche im Hause Berlins. Das Gespräch sei zur Frage gelangt, welches Tier man in einem neuen Leben (an das Berlin nicht glaubte) sein wolle. »Ein Pinguin«, stellte Berlin für sich klar. Die belustigte Abendgesellschaft klärte der Philosoph auf: Er wolle frische Luft, Meer, Sonne, und er wolle Mitglied einer Gemeinschaft sein. Dafür nähme er auch das obligatorisch dem Männchen zugeteilte Eierbrüten in Kauf.
Dieses Bild des Pinguins Isaiah Berlin wurde im Verlauf des Abends immer wieder aufgegriffen. Es unterstrich treffend die Relevanz, die Berlin dem »Beheimatetsein« in einer Gemeinschaft beigemessen hat. Eine Facette seines Denkens, die ihn scharf abgrenzt von den uns heute vielleicht vertrauteren Intellektuellen Arendt, Benjamin oder Adorno, deren »Unbeheimatetsein« bisweilen als Fundament ihres Denkens, wenn nicht als Essenz des Intellektuellen überhaupt wahrgenommen wird. Anders Berlin. Das wieder als Thema aufgeworfen zu haben, ist ein Verdienst des Jerusalemer Symposiums: Wie viel Heimat braucht der Mensch? Wo wird die Sehnsucht nach Heimat zum Kern doktrinärer Ideologie?
Das Symposium versammelte so illustre Köpfe wie Avishai Margalit, Shlomo Avineri und Joseph Mali, zum großen Teil ehemalige Schüler und Freunde Berlins. Insbesondere Avineri und Margalit vermittelten den Zuhörern das Bild eines Denkers, dessen Werk die oben erwähnten Spannungen erkundet und austrägt. »Philosophie der Pinguine«, so lasse sich, räsonierte Avineri, vielleicht Berlins Überzeugung beschreiben, der einzelne Mensch könne nicht autark leben, bedürfe einer Gemeinschaft, die seine Identität ermögliche. Das Individuum als abstrakter Teil einer universellen Menschheit – eine Idee der Aufklärung, die selbst dem mit beiden Füßen in der Aufklärungstradition stehenden Berlin als letztlich inadäquate Abstraktion von Bedürfnissen und Sehnsüchten einzelner Menschen erschienen sei.
Diese Facetten in Isaiah Berlins Schriften sind wieder aktuell. Das zeigte sich in den Ausflügen in aktuelle Debatten um Zionismus und Nationalismus im Nahen Osten während des Symposiums. Die Veranstaltung ließ die Frage offen, inwieweit das Denken Isaiah Berlins für die gegenwärtigen Diskurse konkret fruchtbar gemacht werden könnte; es unterstrich jedoch eindringlich die anhaltende Relevanz eines vielleicht allzu leicht als »Cold-War«-Intellektuellen abgeschriebenen Denkers, den es neu zu erkunden und eventuell gegen den Strich zu lesen gilt. Caroline Jessen
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