von Larry Luxner
Philippe Goldenstein erinnert sich genau an den Moment, als er beschloß, Paris »au revoir« und Florida »bienvenidos« zu sagen. Als der Inhaber eines Gourmet-Restaurants eines Tages zur Synagoge ging, bedrohte ihn auf der Straße ein Araber und pöbelte ihn an: »Dreckiger Jude«. Die Erfahrung, sagt Goldenstein, sei einer seiner Gründe gewesen, nach Miami auszuwandern. »Wir haben hier früher Urlaub gemacht, und es gefiel uns«, fügt der Sohn eines polnischen Vaters und einer algerischen Mutter hinzu. Im Oktober 2003 zog die Familie Goldenstein – Philippe, seine Frau Katia und ihre beiden kleinen Kinder Joshua und Noemi – nach Aventura, einem gehobenen Vorort von Miami, und eröffnete das erste koschere französische Restaurant in der Region. Goldenstein nannte es »Weber Caf« – nach dem Restaurant, das er in Paris betrieben hatte. Das neue Speiselokal im Hafenviertel mit Salat Niçoise, Crêpes, Pasta und Quiches war auf Anhieb ein Erfolg.
Anderthalb Kilometer von Goldensteins Restaurant entfernt liegt die Vierzimmerwohnung von Gisela. Die Jüdin aus Uruguay will ihren Nachnamen nicht nennen, weil über den Einwanderungsstatus ihrer Familie noch nicht endgültig entschieden ist. Gisela und ihr Mann Miguel besaßen einst eine Hemdenfabrik in Montevideo, eine wunderbare Wohnung und ein Sommerhaus am Strand. Doch 2000 brach die Wirtschaft in Uruguay als Folge der massiven Geldentwertung im Nachbarland Argentinien zusammen. Die Familie mußte die Fabrik schließen und das Land verlassen.
»Zuerst gingen wir nach Atlanta, wo wir drei Läden für Ledergürtel in Shopping-Malls betrieben. Aber unsere Kinder konnten sich dort nicht einleben«, erinnert sich Gisela. »Deshalb faßten wir nach drei Jahren den Entschluß, hierher zu ziehen.« Heute arbeitet Gisela als Aushilfslehrerin an der Toras Emes Academy, einer orthodoxen jüdischen Schule in North Miami Beach. Sie ist von Südflorida nicht begeistert – die Einheimischen seien »respektlos und unfreundlich«, sagt sie – aber ihre Kinder seien eben viel glücklicher, und ihr Mann habe einen guten Job als Motorradverkäufer gefunden.
Während die alteingesessene Bevölkerung in Miami schrumpft, verändern Menschen wie Gastronom Goldenstein und die Lehrerin Gisela das Gesicht des jüdischen Miami. Laut einer Studie von Ira Sheskin an der Universität Miami leben heute im Miami-Dade County 113.000 Juden, ein starker Rückgang, verglichen mit dem Höchststand von 218.500 im Jahr 1975. Seitdem sind Tausende jüdischer Einwohner von Miami-Dade nach Broward und in die Palm Beach Countys weiter nördlich abgewandert. Der Zuzug aus dem Ausland dagegen bremste den Rückgang zumindest ab. 31 Prozent der erwachsenen Juden in Miami-Dade, so die Studie, wurden nicht in den USA geboren – ein höherer Prozentsatz als in jeder anderen jüdischen Gemeinde des Landes. 1994 waren es erst 23 Prozent gewesen. Die meisten der für die aktuelle Erhebung Befragten stammten aus Südamerika, Mittelamerika, der Karibik, Osteuropa und dem Nahen Osten.
Wichtigster Grund für den Schwund von Juden in Miami-Dade County sei »das Alter der Menschen, die sich hier ursprünglich niedergelassen haben«, sagt Jacob Solomon, geschäftsführender Vizepräsident der Greater Miami Jewish Federa-
tion. »Als die Bevölkerung zwischen den späten 60ern und den späten 70ern stark anstieg, wurden die, die starben, durch Neuzugewanderte ersetzt – größtenteils Rentner. Doch als Broward und später Palm Beach und die Westküste Floridas immer populärer wurden, änderte sich der ganze Charakter von Miami. Aus einer verschlafenen Rentnerstadt wurde ein vibrierendes internationales Business-Zentrum.«
Seit 1994 hat sich die Zahl jüdischer Erwachsener aus Mittel- und Lateinamerika in Miami-Dade auf rund 9.000 verdoppelt; sie stellen jetzt 10,3 Prozent der erwachsenen jüdischen Bevölkerung. Graciela Chemerinsky vom Latin America Migration Program (LAMP), einer Abteilung der Jewish Community Services of South Florida, erleichtert Neuankömmlingen den Start. »Viele sind Akademiker, gebildet und zweisprachig. Den meisten geht es nicht um finanzielle Hilfe. Sie wollen Information, Orientierungshilfe und Jobs«, sagt Chemerinsky.
Solomon von der Miami Jewish Federation freut sich über das »frische Blut«. »Wir müssen uns hier mit dem Problem einer immer älter werdenden jüdischen Bevölkerung herumschlagen«, sagt er. »Viele waren Flüchtlinge aus Europa, die nach New York kamen und später nach Südflorida abwanderten. Diese Leute haben ihre Ressourcen verbraucht. Sie sind nicht nur von staatlicher Unterstützung abhängig, sondern auch von den Leistungen, die die Federation anbietet.«
Doch dafür pflegen die Juden in Miami- Dade County ihre Wurzeln um so stärker. 46 Prozent der jüdischen Kinder unter zwölf Jahren besuchen jüdische Schulen – der höchste Prozentsatz in allen Gemeinden der USA. Und nur 16 Prozent der Juden heiraten Nichtjuden. »Das Spannende an Miami ist zuzusehen, wie rasend schnell sich die Gemeinde verändert«, sagt Solomon. »Südamerikanische Juden sind zu Tausenden zugewandert, und immer noch kommen Juden aus Frankreich.«
Der anschwellende Antisemitismus in Frankreich »wird zu einem erheblichen Anstieg der Auswanderung führen«, prophezeit Solomon. Auf der anderen Seite, findet Rabbi Yisroel Frankforter aus Miami, hätten es französische Juden in Südflorida nicht leicht. »Die Latinos, die hierher kommen, finden eine Infrastruktur vor: sie können einkaufen, auf Wohnungssuche gehen, und jeder spricht Spanisch«, meint Frankforter. »Den Franzosen hilft das nicht.«
Herve Eli Karsenty aus Lyon, Kellner in Goldensteins »Weber Caf«, sieht das anders. Er lebte einige Jahre in Französisch-Guayana und auf der karibischen Insel Martinique, bevor er sein Glück in Miami versuchte. »Als ich hier ankam, hatte ich kein Geld, keinen Job, nichts«, sagt er. »Mein erster Job war Tellerwäscher in einem Restaurant. Wenn der Chef nach einer Gabel oder einem Löffel fragte, verstand ich nur Bahnhof. Aber wenn man Geld braucht, lernt man sehr schnell.«