Am letzten Oktobertag 1985, dazu noch besonders gefühl- und geschmacklos kurz vor dem 9. November platziert, soll in Frankfurt am Main das berüchtigte Fassbinder-Stück Der Müll, die Stadt und der Tod uraufgeführt werden. Eine Welle der Empörung geht durch Teile der Jüdischen Gemeinde. Wir spüren es mit jeder Faser und sagen es laut: Dieses Stück ist antisemitisch! Mit ekelhaften, hässlichen Sätzen. Mit widerwärtigen Anspielungen auf den Frankfurter Häuserkampf, in dem nicht selten nur jüdische Bauherren als »jüdisch« ausgesondert – soll man sagen: selektiert? – werden. Mit bösartigen, deutlichen Hinweisen, wie wir es sehen, auch auf Ignatz Bubis persönlich.
Ich bin, wie so viele meiner Freunde, selbst kräftig dabei und leidenschaftlich mittendrin. Gemeinsam malen wir Plakate für die Proteste, haben hitzige, endlose Diskussionen in der Jüdischen Gemeinde, aber auch mit dem damaligen Kulturdezernenten der Stadt (Hilmar Hoffmann). Am Abend der Uraufführung demonstriere ich mit anderen vor den Frankfurter Kammerspielen. Wir empfangen das feine Premierenpublikum mit lauten Pfiffen, unsere Freunde, die die Bühne besetzen werden, haben kreativ nachgemachte Eintrittskarten erhalten. Die Demonstration draußen dauert ziemlich lange, es ist beißend kalt. Ein wenig Hitze kommt nur auf, als Jutta Ditfurth (damals eine bekannte grüne Fundamentalistin) erscheint, um mit einigen ihrer Freunde wiederum gegen uns zu demonstrieren. Denn sie meint, wir seien Feinde der Freiheit und glaubt, ausgerechnet uns über Freiheit der Kunst belehren zu müssen. Gefühlskälte, oberlehrerhafte Hartherzigkeit und frostige Ablehnung finden sich auch bei Günther Rühle, dem damaligen Intendanten der Städtischen Bühnen. Die, die uns so dreist und kalt kritisieren, verstehen aber nicht eine einzige Sekunde lang: Unsere Gefühle werden verletzt, wenn in einem deutschen Theater Sätze von antisemitischer Scheußlichkeit gesprochen werden. Dass die Städtischen Bühnen von öffentlichen Subventionen leben, macht die Sache noch pikanter: Steuersätze für Judenhetze? Das darf nicht sein! Wir protestieren mit Ausdauer und Vehemenz, stehen dann später dicht an Ignatz Bubis’ Seite, der – völlig außer sich und noch nicht so geübt wie in späteren Jahren – den Fernsehsendern die Motive für unseren Protest erklärt. In den nächsten Tagen besorgen wir uns alle, quasi konspirativ, Eintrittskarten für die geplanten Vorstellungen, die dann aber gar nicht stattfinden, weil es am Ende vor allem Oberbürgermeister Walter Wallmann ist, der ein Machtwort spricht und diesem Spuk ein Ende bereitet.
Tatsache ist: Diese Auseinandersetzung war für viele Juden in diesem Land, auch für mich, ein politisches »Erweckungserlebnis«: Vor allem Ignatz Bubis hat uns gezeigt (unterstützt von dem damals noch sehr jungen Michel Friedman), dass sich Juden auch in Deutschland laut und kämpferisch einmischen können. Und bereit sein müssen, für sich selbst zu streiten. Das hatte es so noch nicht gegeben im Deutschland der Nachkriegszeit.
Was seinerzeit antisemitisch war und so empfunden wurde, ist heute nichts anderes. Antisemitismus hat keine Verfallszeit.
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