Roman

Petersburger Geisterfahrt

von Sabine Baumann

Der Schriftsteller Oleg Jurjew stammt ursprünglich aus Sankt Petersburg. Inzwischen lebt er in Frankfurt/Main. Seine Romane und Erzählungen haben häufig einen jüdischen Hintergrund, vor allem aber eine turbulente, anspielungsreiche Handlung, geschrieben in einem vielschichtigen, wortschöpferischen Stil. So auch Jurjews neuer Roman Die russische Fracht. Sein Held, der Ich-Erzähler Weniamin Jasytschnik, flüchtet vor neurussischen Mafiosi auf ein Schiff, das mit ukrainischem Wodka und russischen Leichen von Petersburg nach Lübeck unterwegs ist. Jasytschnik ist Historiker und Autor einer Dissertation zum Thema Vineta, der mythischen versunkenen Ostseestadt, deren Spuren die Besatzung der »Ateniv« (so der ukrainische Name des Schiffs, der rückwärts gelesen Vineta ergibt) immer wieder begegnet.
Die Fahrt der »Ateniv« verläuft, wie man sich angesichts ihrer Crew und ihres mythenbewanderten Erzählers denken kann, nicht ohne Merkwürdigkeiten. Da viel getrunken wird, vielleicht auch wegen der Mission des Schiffes, fällt der Erzähler häufig in tranceartigen Schlaf, spaziert in Träumen plötzlich in seiner Petersburger Vergangenheit herum und weiß oft hinterher nicht, wo er ist. Mal scheint das Schiff zu schweben, mal wirbelt es ein Sturm in die verrücktesten Lagen oder es bleibt im Eis stecken und muss verzweifelt manövrieren, um nicht in den falschen Hoheitsgewässern festgehalten zu werden. Dabei begegnet Jasytschnik Gestalten und Themen aus der Literatur, dem Ismael aus Moby Dick, dem Inselstaat Laputa aus Jonathan Swifts Gulliver-Büchern und Peter dem Großen in Gestalt des Fliegenden Holländers.
Auch seine eigene Vergangenheit sucht den Erzähler auf dem Schiff heim: Sein Vater, der die Familie verlassen und sich nach Israel abgesetzt hat, tritt ebenso auf wie sein Stiefvater, der in einem sibirischen Arbeitslager einen der Matrosen kennengelernt hat. Und da ist die mehrfach geschiedene Zoe, die dem verwirrten Helden stets aus der Patsche hilft, ihn mit Köstlichkeiten füttert und ihm in die Koje hievt, wenn er wieder einmal seine Kajüte nicht finden kann. Wie sich in zarten Andeutungen einer Liebesgeschichte herausstellt, haben die beiden miteinander Zwillinge, die das Schiff am Ende seiner Fahrt abholen wird. Zwillinge, Spiegelbilder und Möbiusbänder – das sind die Leitmotive dieses spannenden, fabulierlustigen Buches.
Wer frühere Romane Jurjews kennt, dem werden manche Figuren bekannt vorkommen. Die russische Fracht ist zwar ein Roman, der für sich steht. Man kann ihn aber auch als Fortsetzung bereits erschienener Werke des Autors lesen. In Die Halbinsel Judatin lebte Weniamin Jasytschnik als Dreizehnjähriger in einem Haus, das zwei sehr unterschiedliche jüdische Familien beherbergte: die einen Russen aus einer vor Jahrhunderten zum Judentum konvertierten Sekte, die anderen an die Sowjetunion angepasste Atheisten. Im Roman Der neue Golem oder Der Krieg der Kinder und der Greise verstellte sich der Erzähler als Frau und traf – auch in einem Grenzland und auf der Suche nach einem mythengeschichtlichen Thema – eine als Mann verkleidete Frau, die, wie er, nach den Spuren des Golem-Mythos im Nationalsozialismus forscht. Mit der Russischen Fracht, großartig übersetzt von Elke Erb und Olga Martynova, ist Oleg Jurjew eine überzeugende Fortsetzung dieses originellen Romanzyklus’ gelungen.

oleg jurjew: die russische fracht
Übersetzt von Elke Erb und Olga Martynova
Suhrkamp, Frankfurt, 2009, 223 S., 22,80 €

Interview

»It’s been a tough year«

Yana Naftalieva on the meeting of the World Union of Jewish Students in Berlin, anti-Semitism at universities and her wishes for 2025

von Joshua Schultheis  27.12.2024

Nahost

Israel greift bei libanesisch-syrischem Grenzübergang an

Ziel sei Infrastruktur der Terrormiliz Hisbollah gewesen

 27.12.2024

Nahost

UN-Chef ruft Israel und Huthi-Terrormiliz zu Deeskalation auf

António Guterres nennt die neuesten israelischen Luftangriffe »besonders alarmierend«

 27.12.2024

Nahost

Tote nach israelischen Angriffen im Jemen

Nach Angaben von Israels Armee griff die Luftwaffe Infrastruktur der Huthi-Miliz am internationalen Flughafen der Hauptstadt Sanaa an

 28.12.2024 Aktualisiert

Kultur

Termine und TV-Tipps

Termine und Tipps für den Zeitraum vom 19. Dezember bis zum 2. Januar

 23.12.2024

Debatte

Schweden stoppt Unterstützung von UNRWA

Hintergrund des Schrittes ist die Entscheidung Israels, der UNRWA wegen ihrer Verwirklichung in den palästinensischen Terror jegliche Tätigkeit auf israelischem Territorium zu untersagen

 20.12.2024

Kunst

Leitung der documenta 16 wird heute bekanntgegeben 

Wer wird die nächste documenta kuratieren? Die Findungskommission der für 2027 geplanten Schau will ihre Entscheidung jetzt bekanntgeben

von Nicole Schippers  17.12.2024

Nach Assad-Sturz

Libanesischer Politiker ruft Landsleute zur Rückkehr auf

Im von zahlreichen Krisen geplagten Libanon herrscht neue Zuversicht. Nach den Worten eines wichtigen Politikers ist die Weihnachtsfreude in diesem Jahr gar »doppelt so groß«

 17.12.2024

Berlin

Chanukka-Basar in der Synagoge Pestalozzistraße: Kuchen, koscherer Glühwein und ein Bühnenprogramm

Am Sonntag findet der Basar im Innenhof der Synagoge statt. Es gibt ein vielfältiges Bühnenprogramm. Auch die »The Swinging Hermlins« werden auftreten

von Christine Schmitt  13.12.2024