von Jonathan Rosenblum
Ich werde nie eine Rede von Rabbiner Ephraim Wachsman vergessen, die er zum Thema »Wie kann man ein Leben von Ruchniut inmitten von Gaschmiut leben?« hielt. Ich hatte Rabbi Wachsman nie zuvor gehört und fiel beinahe vom Stuhl, als er losdonnerte: Schon allein die Frage sei ein fundamentaler Irrtum! Es gibt kein Ruchniut (Spirituelles) inmitten von Gaschmiut (Materiellem). In dem Ausmaß, in dem ein Mensch in der Welt des Gaschmiut lebt, ist er vom Ruchniut entfernt.
Vor nicht langer Zeit wurde ich an jene Worte erinnert. Ich war nach Los Angeles gekommen, um die seltene Gelegenheit wahrzunehmen, mit einem Rabbiner zu sprechen, dessen Weisheit mich immer be-
eindruckt hatte. Im Verlauf unseres Ge-
sprächs fragte er mich: »Was, glauben Sie, ist in unserer Zeit die größte Bedrohung der Jiddischkeit?« Ich beugte mich eifrig vor, überzeugt, er würde gleich auf eins meiner Lieblingsthemen zu sprechen kom-
men. Doch ich muss gestehen, dass seine Antwort mich überraschte und nicht zu den ersten zehn auf meiner Bestenliste gehörte.
Wie sich herausstellte, war »Pessach im Hotel« für ihn die Antwort, die den ersten Preis davontrug. Und in der Hauptsache ähnelte die Kritik meines Freundes der von Rabbi Wachsman: Pessach-Hotels nehmen das, was die ultimative spirituelle Erfahrung jedes Juden sein sollte, her und wi-
ckeln es in einen dicken Mantel von Materialismus. Schauen Sie sich die Anzeigen an, sagte er zu mir: »Tägliche Daf Hayomi« ne-
ben »Karate, Go-Carts und Jeepfahren für Kinder« und neben dem »Fitnessstudio mit modernsten Geräten« (um die Extrapfunde abzunehmen, die man sich durch pausenloses Essen angefuttert hat). »Fünfsterne-Unterkünfte« sind der letzte Schrei für ein abgerundetes Pessach-Erlebnis.
Dieses Chilul Haschem, diese Schändung des Namen G’ttes allein, wäre Grund genug, mit der Pessach-Opulenz Schluss zu machen, sagte er. Denn was denken bloß die Angestellten dieser Hotels von den frommen Juden? Dass es ihnen ausschließlich ums Essen geht und ihre Feiertage nichts als Fressorgien sind? Was für einen Eindruck hinterlässt eine Gruppe wohlbeleibter Männer, die versuchen, so viel Essen als nur möglich in sich hineinzustopfen, um auf ihre Kosten zu kommen?
Er erzählte mir eine Geschichte von ei-
nem frommen Jungen, der seinen Vater begleitete, um ihr Chametz zu verkaufen. Sie kamen am Haus des Rabbiners vorbei, wo für das Großreinemachen zu Pessach das Oberste zuunterst gekehrt wurde. Auf dem Weg nach draußen fragte der Junge den Vater, warum im Haus des Rabbiners alles auf dem Kopf stand. Er hatte in seinem ganzen Leben noch kein Pessachputz gesehen und schon gar nicht daran teilgenommen.
Dieser Junge, so klagte mein Freund, kann unmöglich die Idee begreifen, dass die Pessach-Reinigung dem inneren Prozess des Entfernens von Seor Sche’b’isa entspricht – also der Reinigung von stofflichem und innerem Materialismus, die uns davon abhalten, die Gebote von Ha-
schem zu erfüllen. Seine Pessach-Erfah-rungen hatten nichts mit der Vernichtung von Chametz (Gesäuertem) zu tun, weder innerlich noch äußerlich.
Selbst mein Freund muss zugestehen, dass es viele vollkommen legitime Gründe für eine Familie gibt, Pessach im Hotel zu verbringen. Nicht alle Großeltern können Kinder und Kindeskinder bei sich zu Hause unterbringen. Ältere Paare sind oft körperlich nicht mehr in der Lage, die Pessach-Reinigung durchzuführen, und das-
selbe gilt für junge Mütter, besonders kurz vor oder nach der Geburt. Wieder andere Familien wollen die Feiertage vielleicht in Eretz Israel verbringen. Für solche Fälle sollte es Alternativen zu vernünftigen Preisen geben.
Aber es sind nicht diese Familien und älteren Paare, die der Branche einen Um-
satz von vielen hundert Millionen Dollar bescheren. Sie sind es nicht, die Pessach in eine koschere Version von Frühjahrsferien verwandeln. Das Problem der luxuriösen Pessach-Feiern ist in Wahrheit nur ein Aspekt einer anhaltenden Irritation im modernen jüdisch-orthodoxen Leben.
Die Aufgabe unserer Rabbiner und Leiter von Jeschiwot muss darin bestehen, unser Verständnis von Pessach so zu stärken, dass die sich über eine Woche erstreckende Fress- und Vergnügungsorgie ganz selbstverständlich als etwas empfunden wird, was der Idee von der Befreiung vom Materialismus, die das Fest feiert, völlig entgegengesetzt ist.
Andererseits ist es für all jene, denen es an einem solchen Verständnis noch mangelt, womöglich gut, dass wenigstens das Essen glattkoscher ist.
Nachdruck mit freundlicher Genehmigung von Jewishmediaresources.com