Das Gebäude ist definitiv zu klein, zumindest an diesem Mittwochvormittag. Fast als hätte sich der Architekt beim Neubau der Hochschule für Jüdische Studien (HfJS) in Heidelberg vertan. Lange müssen die Gäste warten, ehe sie ihre Plätze im ersten Stock des neuen Hauptgebäudes einnehmen können. 300 Besucher drängen sich im engen Treppenhaus. Nur langsam löst sich die Schlange auf, als sich die Besucher auf verschiedene Räume verteilen. Von dort können sie die Eröffnungsfeierlichkeiten vor Bildschirmen quasi live miterleben.Als »Perle unserer Hochschullandschaft« bezeichnet Peter Frankenberg, baden-württembergischer Wissenschaftsminister, die vom Zentralrat der Juden getragene HfJS in seiner Rede. Eine Perle aber, die bislang mit einer eher bescheidenen Ausstattung auskommen musste. In diesem Jahr feiert die Hochschule dreißigjähriges Bestehen, doch bislang waren ihre Einrichtungen auf vier Standorte in der Heidelberger Altstadt verteilt. Drei Jahrzehnte hat es gedauert, bis für die HfJS die Zeit der Provisorien zu Ende ging und der sieben Millionen Euro teure Neubau bezogen werden konnte.
Zweitausend Quadratmeter stehen der Hochschule nun zur Verfügung. Eine Größe, die man dem Gebäude von außen nicht ansieht. Die gläserne Fassade erlaubt tiefe Einblicke in das Gebäudeinnere, das neben Hörsälen und Seminarräumen auch die Bibliothek und die Mensa der HfJS beherbergt.
Als Prorektor Johannes Heil die anwesenden Honoratioren aus Politik, Gesellschaft und Kultur namentlich begrüßt, klingt es fast so, als würde er aus dem Politikteil einer deutschen Tageszeitung vorlesen. Charlotte Knobloch, Präsidentin des Zentralsrats der Juden in Deutschland, ist erschienen, Bundetagsvizepräsidentin Petra Pau (Die Linke), Altbundeskanzler Helmut Kohl nebst Gattin Maike Kohl-Richter sowie Vertreter der großen Religionsgemeinschaften. Alle wollen dem Moment beiwohnen, in dem das Gebäude seiner Bestimmung übergeben wird.
Dilemma Die Frage nach eben dieser Bestimmung stellt Salomon Korn am deutlichsten. Als Vorsitzendem des Kuratoriums der Hochschule fällt es ihm zu, die Eröffnungsansprache zu halten. Eine pessimistisch gefärbte Reflektion über den Begriff »deutsch-jüdische Kultur« dient als Einleitung. Dieser habe im Verlauf seiner Geschichte nie die »beiderseitige Annäherung« von jüdischer Minderheit und nicht-jüdischer Mehrheitsgesellschaft beschrieben, sondern eine einseitige »Angleichung des Judentums«. Beiträge jüdischer Persönlichkeiten zur deut- schen Kultur seien nie mit »wirklicher gesellschaftlicher Gleichstellung des jüdischen Kollektivs gewürdigt worden«. Juden in Deutschland stünden vor einem Dilemma: Bewahren sie ihre besondere Prägung, »bleiben sie bewusst eine eigene Gruppe innerhalb der Mehrheitsgesellschaft«. Gäben sie ihre spezifische Prägung auf, würden sie sich früher oder später assimilieren, »ohne eigene kulturelle Spuren zu hinterlassen«.
Nach den Schrecken der Schoa habe sich darüber hinaus in Deutschland nie wieder eine »substanzielle jüdische Kultur« entwickelt. Auch von den Einwanderern aus den ehemaligen Sowjetstaaten seien bislang keine dahingehenden Impulse erkennbar. Vor diesem Hintergrund käme Einrichtungen wie der HfJS die Rolle von »Kristallisationskernen« einer zukünftigen deutsch-europäisch-jüdischen Kultur zu.
Noch weitere Reden werden an diesen Mittwoch gehalten, nicht alle so analytisch, die wenigsten so pessimistisch wie Korns. In der ersten Reihe der Ehrengäste verfolgt einer das Geschehen besonders aufmerksam, mit wachen Augen aber beinahe versteinerter Miene. Helmut Kohl, sichtlich gesundheitlich angeschlagen, hat es sich nicht nehmen lassen, der Einweihung beizuwohnen. 500 Bauaktien, die für 500 Euro das Stück verkauft wurden, hatte Kohl eigenhändig signiert und so zur Finanzierung der Baukosten beigetragen. Als Dank überreicht Verleger Hubert Burda dem Altbundeskanzler die Aktie mit der Seriennummer 1. Kohls Lächeln, kaum ein Zucken auf den ansonsten unbeweglichen Lippen.
Ganz zum Schluss der Feierlichkeiten wird es noch einmal eng. Hochschulrabbiner Shaul Friberg strebt zum Eingang, um die Mesusa am Türpfosten anzubringen und wieder drängen sich die Schaulustigen im Treppenhaus. »Eine Laubhütte«, erklärt der aus Schweden stammende Rabbiner in Anspielung auf das kurz bevorstehende Sukkot, »braucht keine Mesusa, weil sie nicht auf Dauer angelegt ist. Hier aber hoffen wir sehr lange zu bleiben.«