von Thomas Meyer
Die Wochenendausgabe von Haaretz ist immer für eine Überraschung gut. Mal liest man dort politische Enthüllungsstorys, mal gehobenen Societyklatsch. Der Aufmacher am 7. Juni hatte von beidem etwas. Der für seine Interviews so berühmte wie gefürchtete Journalist Ari Shavit sprach mit Avraham Burg, Ex-Knessetpräsident und ehemaliger Chef der Jewish Agency. Burg, der sich seit Jahren im Kampf um öffentliche Aufmerksamkeit engagiert, hatte gerade ein Buch veröffentlicht, dem der Verlag den Titel Hitler besiegen verpasst hatte. Dort und in dem Interview griff der Autor den Zionismus prinzi- piell an, stellte den jüdischen Charakter des Staats in Frage, verglich Aspekte der israelischen Politik mit der Nazideutschlands und empfahl den Israelis, es ihm gleichzutun und sich einen ausländischen (in Burgs Fall französischen) Pass zu besorgen. Das Buch, das er, wie Burg sagt, »aus Liebe« geschrieben hat, stellt Israel als einen Staat dar, der in den täglichen Auseinandersetzungen mit den Palästinensern auf eine dramatisch abschüssige Bahn geraten und dabei ist, seine demokratischen Grundlagen aufzugeben und sich zu einer Gesellschaft der »Paranoia« zu wandeln, deren Denken und Tun von Angst diktiert wird.
Die mediale Aufregung war groß. Avraham Burg, der 1955 geborene Sohn des aus Dresden stammenden legendären religiösen Zionistenführers Yosef Burg, seit den achtziger Jahren Peace Now-Aktivist, Assistent von Schimon Peres, führender Politiker der Arbeitspartei und in seiner Funktion als Knessetsprecher im Jahre 2000 sogar drei Wochen lang amtierender israelischer Staatspräsident, ist Fleisch vom Fleisch des zionistischen Establishment. Manche Kommentatoren, etwa in der Jerusalem Post, versuchten deshalb, seine Aussagen psychoanalytisch zu deuten: Avrahams Provokationen seien ein ödipaler Abgrenzungsversuch gegen seinen übermächtigen Vater. Andere vermuteten einen PR-Scoop eines eitlen, und wie nicht wenige sagen, opportunistischen Autors, der von seinem politischen Karriere-knick und seinen aktuellen geschäftlichen Problemen ablenken wolle.
Dabei sind Burgs Thesen im Buch und in dem Interview so sensationell neu nicht. Bereits 2003 hatte er in einem Interview mit demselben Shavit Generalangriffe auf Israel gefahren, die tagelang die Medien beschäftigten. Im New Yorker For- ward, der International Herald Tribune« und dem britischen Guardian publiziert er regelmäßig israel- und zionismuskritische Artikel, die ihn zu einer weltweit wahrgenommenen Figur gemacht haben.
Inzwischen ist die Erregung wieder abgeebbt, das politische und intellektuelle Israel ist zur Tagesordnung zurückgekehrt. Es ist ein bisschen wie in Frankreich, wo regelmäßig Essays von bekannten Persönlichkeiten erscheinen, die aus einer Maus einen Elefanten machen und für dieses Kunststück einen Tag, manchmal eine halbe Woche von der Presse zum Mittelpunkt des Sonnensystems erklärt werden. Genauso schnell verschwinden die Bändchen dann wieder, nicht einmal in der Backlist der Verlage sind sie danach noch zu finden.
Dabei hat Avraham Burg durchaus bedenkenswerte Themen angesprochen. Gegenüber Shavit, der ihn partout als Antizionisten darstellen wollte, insistierte Burg auf einem anderen als dem herrschenden »katastrophistischen« Zionismusverständnis. Statt auf Theodor Herzl und Max Nordau, die von den europäischen, vor allem deutschen Nationalismen ihrer Zeit geprägt gewesen seien, beruft Burg sich auf Achad Haams Idee von Israel als spirituellem Zentrum. Im jahrtausendealten Streit zwischen jüdischem Partikularismus und Universalismus steht er entschieden in letzterem Lager. Was eine sachliche Debatte von Burgs Thesen so schwierig macht, sind die Grenzverletzungen, die er permanent begeht. Besonders deutlich zeigt sich das, wenn Burg seinen absurden Vergleich zwischen Israel heute und Deutschland am Vorabend des »Dritten Reiches« zieht. Was für Burg eine aufgeklärte, eine kämpferische Metapher im Sinne von »Es ist kurz vor Zwölf« bedeutet, muss bei Shavit und den meisten, auch linken Israelis wie ein existenzieller Angriff wirken. Den »Hitler« im Titel seines Buchs hat Avraham Burg sicherlich symbolisch gemeint und nicht realgeschichtlich. Dass Israelis das anders lesen könnten, müsste er jedoch gewusst haben.
Bricht man einmal die radikale Einseitigkeit von Burgs Meinung herunter (die ja selbst schon in Teilen ein Gegenbeweis für manche seiner Thesen über die »Transformation der israelischen Gesellschaft« ist), ergeben sich tatsächlich wichtige Fragen, die von Shavit allerdings nicht gestellt wurden. Unter diesen ungestellten Fragen steht ganz vorn eine, die aktuell in den Jerusalemer Think Tanks heiß diskutiert wird: eine israelische Verfassung. Im religiös-konservativen Shalem-Center und im Hartmann-Institute haben sich hochkarätige Expertengruppen zusammengetan und diskutieren darüber, was eine Verfassung des Staats Israel beinhalten und regeln müsste. Die seit der Staatsgründung an verschiedene Institutionen delegierte und immer noch offene Frage nach dem Verhältnis von Halacha und säkularem Rechtsstaat ist darunter die kniffligste, beileibe aber nicht die einzige.
Auffällig ist auch die, gemessen an Avraham Burgs alarmistischen Thesen, nahezu unglaubliche Ruhe und Ausgeglichenheit in der israelischen Politik, auch ange- sichts der zunehmend schwierigen Lage des Landes. Zwar werden Personen wie aktuell Ministerpräsident Ehud Olmert in der Öffentlichkeit extrem hart angegriffen. Doch das »System« und die ideologischen Grundlagen des Staats bleiben dabei stets unangetastet. Daran wird auch Burgs Paukenschlag nichts ändern. Spätestens wenn der zweite Teil des Winograd-Berichts über den Libanonkrieg vorgelegt wird, oder wenn der Kampf zwischen Fatah und Hamas sich auf Israel ausdehnt, wird man Burg vergessen haben.