von Pierre Heumann
Israel hat gewählt. Aber entschieden ist nichts (vgl. S. 4). Nach dem Urnengang steht das Land vor einer Pattsituation. Der Kampf zwischen Kadima und Likud ist unentschieden ausgegangen. Nach den Stimmenzählern kommen jetzt die Rechner zum Zug. Israels Politiker, die in den vergangenen Wochen um jede Stimme gekämpft haben, kalkulieren nun die politische Zukunft des Landes.
Kadima + Likud + Arbeitspartei oder Likud + Israel Beitenu + Schas + Nationale Union? Die Aufgabe »Welches Gleichnis ergibt mindestens die Summe von 61?« ist knifflig. Und sie hat mehrere Lösungen. Zipi Livnis Kadima-Partei hat wohl die meisten Stimmen geholt. Doch sie hat die Wahlen gleichzeitig auch verloren. Denn der rechte Block mit Benjamin Netanjahu, Avigdor Lieberman & Co. hat mehr Mandate erhalten als die Links-Mitte-Gruppe. Livni hat kaum Chancen, ein mehrheitsfähiges Regierungsbündnis zu zimmern, wenn Likud-Chef Netanjahu ihr die kalte Schulter zeigt. Das Rennen ist offen: Sowohl Livni als auch Netanjahu haben sich in der Wahlnacht zum Sieger erklärt. Doch beide werden den Taschenrechner, auf dem sie ihre Chancen kalkulieren, möglichst schnell zur Seite legen und sich darüber nachdenken müssen: Was ist gut für das Land? Um das zu beantworten, ist nicht Mathematik, sondern staatsmännische Klugheit gefragt.
Eine rechnerische Mehrheit ist notwendig, aber keine hinreichende Bedingung für das Funktionieren einer Koalition. Denn niemand kann ein Interesse daran haben, Chef einer Regierung zu sein, deren einzige Strategie darin besteht, Nein zu sagen. Netanjahu müsste sich davon leiten lassen, mit welchem Koalitionspartner er am meisten bewirken kann.
Eine Koalition der Ultra-Rechten würde Israel ins Abseits führen. Wenn Nationalisten und Siedler den Ton angeben, steuert Israel nicht nur auf Konfrontationskurs mit den arabischen Nachbarn, son- dern auch mit seinem engsten Verbündeten, den Vereinigten Staaten. Denn US-Präsident Obama will Fortschritte sehen im Friedensprozess. Stellt sich die künftige Regierung quer, ist der Konflikt mit Washington unausweichlich. Das wäre der Fall, wenn die nächste Regierung mit Ideologen bestückt ist, die unwillig den Kopf schütteln, wenn sie die Wörter »Konzessionen« oder »Verhandlungen« hören.
Netanjahu wird gut daran tun, bei seinem Kalkül auch auf die Interessen des neuen Präsidenten im Weißen Haus zu achten. Denn Barack Obama will das angeschlagene Ansehen der USA im Mittleren Osten wiederherstellen. Das Engagement in der Region ist für ihn von stra- tegischer Bedeutung. Anders als seine Vorgänger will er nicht bis zum Ende seiner Amtszeit warten, bevor er im Nahen Osten diplomatisch eingreift.
Der nächste israelische Premier wird zwar davon ausgehen können, dass die USA ein verlässlicher Freund Israels bleibt. Doch die Freundschaft könnte überstrapaziert werden, wenn die ökonomischen Interessen der USA im Nahen Osten gefährdet werden. So mahnte kürzlich der ehe- malige saudi-arabische Botschafter in Wa- shington, Prinz Turki al-Feisal, dass die Geduld seines Landes zu Ende gehe: Das Unvermögen der USA, ihre Politik im Nahen Osten zu ändern, könnte den Beziehungen zwischen beiden Ländern schaden.
Bei Avancen gegenüber der arabischen Welt wird Obama von Israel einen Preis fordern: Zum Beispiel im Westjordanland, in Jerusalem oder auf den Golanhöhen. Er kann aber sein Ziel nicht erreichen, wenn in Israel eine Koalition der Nein-Sager entsteht, die keine Siedlungen aufgeben will, Jerusalem als unteilbar betrachtet und die Zwei-Staaten-Lösung ablehnt.
Gefragt ist nun die Weisheit von Israels Staatschef Schimon Peres. Er wird in den nächsten Tagen diejenige Partei mit der Regierungsbildung beauftragen, welche die besten Chancen hat, eine stabile Koalition zu bilden. Als ehemaliger Motor des Friedensprozesses dürfte es ihm schwer fallen, einer Rechts-Außen-Koalition das Startzeichen zu geben, die über das definitive Ende des Dialogs mit den Palästinensern entscheiden würde.
Peres ist lange im Geschäft, was den Vorteil hat, dass er alles schon einmal erlebt hat – auch eine Pattsituation nach den Wahlen. Vor 25 Jahren musste er sich mit Jitzchak Schamir die Regierungsverantwortung teilen, weil weder der Likud noch die Arbeitspartei eine stabile Koalition bilden konnten. Beide waren jeweils zwei Jahre an der Spitze der Regierung. Der Kompromiss ermöglichte eine Stabilität, die Israels labile Politik sonst nicht kennt – dank der Rotations- Formel blieb das Duo Schamir/Peres vier Jahre im Amt.