von Harald Loch
Nadia ist eine Halblinke, ein Friedenskind, die in Cambridge Soziologie unterrichtet. Ihre Schwester Vera, ein Kriegskind, ist eher eine Thatcheristin von zupackender Art. Die Eltern der beiden waren im Krieg als jüdische Arbeitssklaven aus der Ukraine nach Deutschland deportiert worden. Nur mit Mühe hatten sie die kleine Vera mit auf diese Zwangsreise nehmen können. Nach Kriegsende wurde Nadia in einem DP-Lager in Kiel geboren, bevor die Familie nach England ging. Die Mutter ist mittlerweile verstorben, der Vater, schon über 80, schreibt an einer Weltgeschichte des Traktors auf Ukrainisch – und verliebt sich in die gerade illegal aus der Ukraine nach England immigrierte Valentina. Die ist blond, verrucht und viel jünger als die Töchter ihres Gönners.
Aus dieser auch autobiographisch zu lesenden Konstellation zaubert Marina Lewycka einen unerhört witzigen, an vielen Stellen auch ernsthaften, literarisch anspruchsvollen Roman, der zum besten gehört, was in diesem Jahr aus England zu uns kam. Das Buch, das zu Recht seit Wochen auf den deutschen Bestsellerlisten steht, ist eine glänzend erzählte Sozialgeschichte von DPs im Nachkriegsdeutschland, zugleich eine tolle Famlien- komödie und ein hohes Lied auf den englischen Rechtsstaat. Nebenbei wird ein uralter Rolls Royce mit vereinten ukrainisch-britischen Ingenieurkünsten wieder fahr- bereit gemacht, nachdem er einer streunenden Katzenfamilie als noble Herberge gedient hatte. Fast aus heiterem Himmel wird ein Kind geboren, um dessen biologischen Erzeuger es bald schon nicht mehr geht, weil es genügend Männer im Umfeld der Mutter gibt, die sein Vater sein wollen. Die Autorin entwickelt Persönlichkeiten von höchst markanter Eigenart und Widersprüchlichkeit: Die beiden Schwestern könnten unterschiedlicher nicht sein. Ihr alter Vater ist in mancher Hinsicht ein Kind, kein Held, aber ein Mensch, der seine Ecken und Kanten nicht im Mainstream abgerundet hat. Valentina wirkt gerissen, versteht sich auf ihren Vorteil und will für ihren Sohn nur das Beste. Großartig: Marina Lewycka läßt diese Personen einfach aufeinander los. So viel Freiheit färbt von der Kraft der Figuren auf die ganze Atmosphäre ab – Optimismus auf höchstem Niveau!
marina lewycka: kurze geschichte des traktors auf ukrainisch
Übersetzt von Elfi Hartenstein
dtv premium, München 2006, 359 S., 14 €