Wer auf Menachem Mayers großer Terrasse steht, hat einen traumhaften Blick über Jerusalem. Man sieht den grünen Gürtel um das Israel-Museum, in dem die berühmten Qumran-Rollen ausgestellt sind, und schaut über die hellen Häuser des modernen Stadtteils, die in der Sonne leuchten. Hier oben lässt sich Frieden finden. Dass Menachem heute diese Aussicht genießen kann, verdankt er dem Mut seiner Eltern. Ihm und seinem Bruder Fred schenkten sie das Leben. Nicht nur einmal. Eine außergewöhnliche Geschichte, die nun im Kino zu sehen ist. Am 1. Oktober läuft der Film an, der das Leben der beiden nachzeichnet: Menachem & Fred.
Rückblende 9. November 1938: Der sechsjährige Menachem heißt zu dieser Zeit noch Heinz. Mit seinem vier Jahre älteren Bruder Manfred wächst er im beschaulichen Hoffenheim auf. Die jüdische Familie führt ein friedliches Leben. Bis die Sy- nagogen brennen. Plötzlich lärmt es bei den Mayers an der Tür. Es ist Emil Hopp, Lehrer im Ort und Nationalsozialist. Er treibt die Familie aus dem Haus und die beiden Jungen damit aus ihrem bisherigen Leben. Für die Dreharbeiten kehrten Menachem und Fred knapp 70 Jahre später nach Hoffenheim zurück. Sie trafen alte Freunde, aber auch bis heute Unbelehrbare. Fred sagt bei der Ankunft, die Kamera läuft da schon: »Was für eine wunderbare Gegend! Es wäre schön gewesen, hier aufzuwachsen – hätten uns die Kinder nicht gequält, weil wir Juden waren.«
Die Mayers werden 1940 ins französische KZ Gurs deportiert. Die Zustände dort sind katastrophal, immer mehr Menschen sterben. Bald stehen Menachem und Freds Eltern vor der Entscheidung ihres Lebens: Eine Hilfsorganisation darf Kinder aus dem Lager holen. Aber wer gibt sein Liebstes her? Lässt es ohne den eigenen Schutz ziehen? Und doch hebt der Vater seine Söhne eines Tages auf den Lastwagen. Er nimmt Manfred das Versprechen ab, sich um den kleinen Heinz zu kümmern. Immer. »Ich kann nicht verstehen, wie Eltern so etwas schaffen«, sagt der heute 80-jährige ältere Bruder. »Ich habe selbst Kinder, und der Gedanke an eine Trennung in dieser Situation ...« Die Erinnerung lässt seine Worte stocken. »Ich weiß, sie wollen nicht, dass ich weine«, sagt er.
gen Palästina Manfred und Heinz landen in einem christlichen Waisenhaus im französischen Aspet. Die Mutter schreibt regelmäßig aus dem KZ, sorgt sich um ihre Jungs. Im Sommer 1942 bleiben die Briefe aus. Die Eltern werden nach Auschwitz deportiert und ermordet. Die Kamera begleitet die beiden Brüder an den Ort, an dem Mutter und Vater umkamen. Sie weinen, ringen um Fassung. Als die Männer an den Gleisen in Auschwitz stehen, sagt Fred sichtlich bewegt: »Gott ist hier gestorben.« Dass die Brüder noch leben, verdanken sie der mutigen Entscheidung der Eltern, ihre Kinder fortzuschicken. Das Waisenhaus bleibt ihr Aufenthaltsort, bis sie 1944 erneut fliehen müssen und getrennt werden: Manfred wird bei Bauern versteckt, Heinz in der Schweiz. Nach Kriegsende will Manfred in die USA auswandern – mit seinem Bruder. Doch der hat ein anderes Ziel: Palästina. Also trennen sie sich erneut. Der Große lässt den Kleinen gehen. Manfred kommt im Dezember 1946 nach New York, nennt sich jetzt Fred. Auch der kleine Bruder ändert seinen Namen: Als Heinz 1948 nach Israel fährt, wirft er seine Papiere ins Meer und ist fortan Menachem. »In dem Moment, als ich hier ankam, habe ich mich sofort zu Hause gefühlt«, sagt er heute.
Bei einem Umzug Ende der 50er-Jahre entdeckt Fred die alten Briefe der Mutter. Er will sie loswerden. Zu schmerzhaft ist die Erinnerung. Also schickt er sie seinem Bruder nach Israel mit den Worten: »Erst wollte ich sie verbrennen. Doch dann dachte ich mir, dass sie auch dir gehören. Mach damit, was du willst.« Menachem legt die Briefe ungelesen zur Seite. »Auch ich war auf einer Flucht«, erzählt er im Film – ganz so, als müsse er sich entschuldigen. Er verwahrt die Erinnerung in einer Schublade, rührt sie nicht an. Jahrelang. Doch irgendwann ist er bereit und liest sie, nimmt Kontakt zu seinem Bruder auf. Schließlich veröffentlichen sie ihre Erinnerungen 2003 in einem englischsprachigen Buch.
Das erfährt auch Familie Hopp. Es sind die Kinder des Mannes, der die Mayers einst aus ihrem Zuhause vertrieb: Karola, Rüdiger und nicht zuletzt Dietmar Hopp, einer der reichsten Männer Deutschlands, Gründer des Softwarekonzerns SAP. Sie sind tief bewegt, erkennen das Ausmaß des Leids, das ihr Vater über die Juden Hoffenheims brachte. Sie wollen ein Zeichen setzen und finanzieren die deutsche Ausgabe des Buchs: Aus Hoffenheim deportiert. Der Weg zweier jüdischer Brüder.
schlaflos Die Geschichte inspiriert die israelischen Regisseurinnen Ofra Tevet und Ronit Kertsner zu ihrem Film. Menachem und Fred zögern, sagen nach langen inneren Kämpfen schließlich zu. Die filmische Spurensuche verlangt ihnen viel ab. »Ich schlafe nicht gut«, sagt Menachem während des Drehs. »Ich habe kein gutes Gefühl dabei, zurückzukommen.« Fred geht es ähnlich: »Als wir zugestimmt haben, diesen Film zu machen, hätten wir wissen müssen, dass wir noch einmal durch die Hölle gehen.« Oft sind die beiden am Ende ihrer Kräfte. Vor allem Fred, der seinen kleinen Bruder einst allein ließ, ringt um Fassung.
therapie Doch die Arbeit an dem Film bringt eine ungeahnte Wendung: Familie Hopp und die Mayers kommen sich näher. Sie umarmen sich, werden Freunde. Etwas, wovon vor allem die Brüder selbst überrascht sind. Und dass die Hopps sich heute für Juden einsetzen, für Aufarbeitung und Versöhnung, wirkt wie Balsam auf strapazierte Seelen. Und so fließen Freudentränen. Auch, als sich 2005 die Familien von Menachem und Fred zum ersten Mal treffen – in Hoffenheim. Schließlich wird sogar eine Gedenktafel für die deportierten und vertriebenen Juden des Ortes enthüllt. Wieder Freudentränen, vor laufender Kamera. Und: Dietmar Hopp drängt sich zu keiner Zeit in den Vordergrund. Er, der Chef und Gönner des Fußballbundesligisten TSG Hoffenheim, hält sich im Hintergrund.
Menachem & Fred erhielt im Februar den Inspirationspreis auf der Cinema For Peace Gala der »Berlinale«. Fred, der damals ergriffen eine Dankesrede hielt, hat heute seinen Frieden mit der Vergangenheit gemacht. Es fällt ihm jetzt leichter, über Deutschland zu sprechen und hierher zu kommen. Während der harten Dreharbeiten hatte er manchmal seine Zusage bereut, den Film zu machen. Warum Fred es dennoch tat, beantwortet er in der Dokumentation selbst: »Ich tue es zu Therapiezwecken. Für künftige Generationen. Für unsere Kinder und Enkel. Sie müssen wissen, was geschehen ist.«