von Dagmar Gehm-Koppel
Am westlichen Teil des Bodensees – dem Untersee – liegt die Halbinsel Höri. Viele Kunstschaffende wie Otto Dix, Helmuth Macke – der Cousin von August Macke –, Erich Heckel und Hermann Hesse siedelten sich im Dritten Reich hier an. In unmittelbarer Nähe zur Schweiz fühlten sich die von den Nationalsozialisten Verfolgten einigermaßen sicher. Hermann Hesse und Otto Dix wurden eigene Museen gewidmet. Dass ein weiterer berühmter Schriftsteller von hier gebürtig war und viele Jahre seines Lebens verbrachte, wurde erst durch den »Freundeskreis Jacob Picard« publik. Gemeinsam mit der Ortsverwaltung und dem örtlichen Tourismusverein richtete er den »Jacob Picard Gedenkraum« im Rathaus Wangen ein.
Der Dichter (1883 bis 1967), der Bücher über das Landjudentum schrieb, gehörte der großen jüdischen Gemeinde an, die sich bereits im 17. Jahrhundert hier niedergelassen hatte. Seit 2002 hat man den Wert dieses fast unentdeckten kulturellen Schatzes erkannt und bietet unter Leitung des Historikers Helmut Fidler, der sich auf die Geschichte der Juden am Bodensee spezialisiert hat, Rundgänge zum Thema »Jüdisches Leben in Wangen« an.
Mehr als 300 Jahre lang gab es hier eine jüdische Gemeinde: »Vermutlich hat der 1622 in den Freiherrenstand erhobene Hans Ludwig von Ulm erstmals Schutzbriefe für Wangener Juden ausgestellt«, erklärt Helmut Fidler. 1816 leben in dem seit zehn Jahren badischen Ort bereits »497 Seelen, davon 161 Juden«, wie aus einer alten Chronik hervorgeht. 1825 machten die 224 Juden also 39 Prozent der Gesamtbevölkerung aus – eine blühende Gemeinde.
Das Interesse an den rund zweistündigen Führungen ist rege. Doch die Rolle der Teilnehmer ist nicht nur auf das Zuhören beschränkt. »Haben Sie schon ein jüdisches Haus entdeckt?« Fidler fragt in die Runde. Denn jüdische Architektur hat bis heute das Dorfbild geprägt. Nach einer Weile bekommen wir Übung darin, zu erkennen, welche Gebäude ursprünglich einmal von Juden und welche von Christen bewohnt waren.
Da die jüdischen Einwohner keine Landwirtschaft betreiben durften, hatten ihre Häuser eher bürgerlichen Charakter. Während die Bauernhöfe von einem Garten umgeben einzeln stehen, drängen sich die Häuser der Juden eng aneinander. Da sie anfänglich fast ohne Rechte als Hausierer ihren Lebensunterhalt verdienen mussten und Kurzwaren unter anderem gegen Marder- und Fuchsfelle eintauschten, haben etliche ihrer Häuser einen sogenannten Kniestock, einen Lagerraum mit Lüftungen im Obergeschoss. Durchschnittlich zwei Familien bewohnten ein solches Haus. Wer alleine in einem Haus lebte, erregte Ärger wie beispielsweise Joseph Manes Wolf, der mit dem »Steinernen Haus« am Dorfplatz seinen Reichtum offen zur Schau stellte. Wegen der angeblich pompösen Treppe zum Eingang musste der Besitzer 44 Gulden an die Gemeinde zahlen.
Die ältesten in jüdischem Besitz befindlichen Grundstücke lagen in der Nähe des Seeufers. Bereits im 18. Jahrhundert bezahlte die jüdische Gemeinde einen eigenen Lehrer. In den »Israelitischen Annalen« vom 10. Juli 1840 berichtete der Gailinger Rabbiner Leopold Schott über die Verhältnisse in der Gemeinde Wangen: »… besitzen sie eine eigene Elementarschule, aus welcher schon viele recht gut vorbereitete Jünglinge hervorgegangen sind, wovon sich einer der Jurisprudenz, vier dem Lehrstand, zwei dem höheren Kaufmannsstande und zehn dem Handwerk gewidmet haben.« Das hohe Ansehen der Juden zeigt sich in einer weiteren Eintragung: »Der derzeitige Lehrer steht in solcher Achtung, dass ihm gegenwärtig auch an der vakanten christlichen Schule bis zu deren Wiederbesetzung der gesamte Unterricht, versteht sich mit Ausnahme des religiösen, anvertraut ist.«
Doch obwohl laut Badischer Landeszeitung vom 1. September 1853 Wangen eine »schöne Synagoge und einen erbaulichen Gottesdienst mit Sangchor« hat, zieht es nach 1862 immer mehr Juden fort. Da sie jetzt anderen Bürgern gleichgestellt sind, dürfen sie sich fortan auch in Städten niederlassen. Die Synagoge wird in der Pogromnacht von 1938 angezündet. Eine Gedenktafel erinnert heute daran.
Der letzte Nachfahre der jüdischen Gemeinschaft ist der Zahnarzt Gert Wolf. Kurz vor Kriegsbeginn war sein Vater, der Arzt Nathan Wolf, in die Schweiz ausgewandert. Seine nichtjüdische Mutter blieb mit den Kindern in Wangen. »Bis 1942 hatte das Zusammenleben gut funktioniert. Doch 1942 musste ich das Gymnasium verlassen«, erzählt der heute 80-Jährige im Gespräch mit der Jüdischen Allgemeinen. »Dann bekam ich ein Aufenthaltsverbot für die Grenzkreise und musste nach Stuttgart gehen, um dort bei Obstbauern zu arbeiten.« 1945 kam er nach Wangen zurück und zog in sein Geburtshaus, wo er noch heute wohnt. Auch sein Vater Nathan kehrt aus dem Exil zurück, wird Bürgermeister, später Gemeinderat und für lange Jahre Vize-Bürgermeister. 1970/71 werden Nathan und seine Schwester Selma als letzte Juden auf dem jüdischen Friedhof oberhalb des Ortes beerdigt. Alle 14 Tage besucht Gert Wolf das Grab von Vater und Tante. Seitdem Vandalen den Friedhof schändeten, wurden die Hinweisschilder entfernt.
Das neu erwachte Interesse am jüdischen Leben in seiner Heimat macht den letzten Nachfahren froh: »Bisher hat die gesamte Aufmerksamkeit fast ausschließlich Hermann Hesse und Otto Dix gegolten. Jetzt besinnt man sich endlich auch auf Jacob Picard und mit ihm auf die große jüdische Vergangenheit hier auf der Höri.« Wie Juden und Christen auf dem Lande zusammenlebten, ist den Erzählungen des Dichters zu entnehmen: »Die Leisers saßen seit Langem unter den Bauern hier mit den anderen jüdischen Menschen, dass niemand mehr wusste, wann sie gekommen waren, sie gehörten ins Dorf, so wie es war in seiner Mischung von Bewohnern seit je in friedlicher Gemeinschaft.«