Herr Kalmanowicz, durch das Ausschei-
den des Kölner Gemeinderabbiners Ne-tanel Teitelbaum ergeben sich personelle Veränderungen an der Spitze der Orthodoxen Rabbinerkonferenz Deutschland (ORD). Gibt es schon einen Nachfolger?
kalmanowicz: Ich bedauere außerordentlich, dass sich Rabbiner Teitelbaum dazu entschlossen hat, nach Israel zurückzukehren. Gleichwohl wird die Arbeit in der Orthodoxen Rabbinerkonferenz fortgesetzt. Am kommenden Sonntag trifft sich das Gremium und wählt einen neuen Vorstand. Der soll zukünftig nicht mehr nur aus drei Mitgliedern bestehen, sondern aus zusätzlich zwei Beiräten. Zeitgleich wird turnusgemäß der Vorsitz der Deutschen Rabbinerkonferenz an die Allgemeine Rabbinerkonferenz (ARK) gehen, voraussichtlich an Rabbiner Henry Brandt.
Gleichberechtigung für Orthodoxe und Liberale in der gemeinsamen Deutschen Rabbinerkonferenz?
kalmanowicz: Ja. Wir versuchen, ORD und die ARK in gleicher Weise zu fördern. Wie die ORD will jetzt zum Beispiel auch die ARK ein Sekretariat einrichten. Zudem besteht der Wunsch, sogenannte Wanderrabbiner, die kleine Gemeinden betreuen, einzustellen. Ich bin sehr zuversichtlich, dass diese Vorhaben vom Zentralrat unterstützt werden.
Die ORD hat 30 Mitglieder, die orthodoxen Rabbiner von Chabad sind nicht mit dabei. Wie gehen Sie mit dieser immer stärker werdenden Gruppe um?
kalmanowicz: Chabad macht hier eine gute Arbeit. Rabbiner Diskin aus München war kürzlich als Vertreter von Chabad Deutschland zu Gast bei einer Sitzung des Zentralrats. Er hat uns versichert, dass es seiner Bewegung nicht um Macht und Einfluss geht, sondern darum, den Gemeinden zu helfen.
Chabad bildet in Deutschland Rabbiner aus, wie die Lauder-Jeschiwa in Berlin und das Abraham-Geiger-Kolleg in Potsdam. Hilft der Zentralrat dabei?
kalmanowicz: Wir unterstützen die Ausbildung bei Lauder und Geiger finanziell, weil wir Rabbiner brauchen. Chabad erhält – wenn überhaupt – nur projektbezogene Förderung. Sie sind auch nicht so sehr darauf angewiesen, sie haben ihre Spenden.
Der Einfluss ausländischer jüdischer Organisationen und Bewegungen wächst. Ist das gut für die Juden Deutschlands?
kalmanowicz: Nachdem Deutschland nun wieder auf der jüdischen Landkarte ist, wollen uns Organisationen aus Washington, Moskau oder London Entwicklungshilfe geben. Doch die brauchen wir nicht. Was wir brauchen, sind Rabbiner und Lehrer, aber keine arbeitslosen Lehrer aus Oregon oder Florida, die kaum ein Wort Deutsch können. Die Zukunft des deutschen Judentums in religiöser Hinsicht liegt in den Händen der ORD und der ARK. Und sie liegt bei der Hochschule für Jüdische Studien in Heidelberg. Und bei Lauder, Chabad und Geiger. Das ist für mich keine Konkurrenz, das ist für mich ein Teil der Zukunft. Ob die Liberalen oder die Orthodoxen Mehrheit oder Minderheit werden, ist mir egal. Das werden die deutschen Juden schon entscheiden. Aber dass es überhaupt Rabbiner und Kantoren gibt, das ist die Überlebensgarantie. Eines ist klar: Der Zentralrat ist die politische Vertretung aller Juden in Deutschland. Und akzeptiert als direkte Partner nur zwei religiöse Institutionen: die ORD und die ARK.
Sie selbst werden eher dem orthodoxen Lager zugerechnet. Hat das Einfluss auf Ihre Arbeit?
kalmanowicz: Ich kann nicht verleugnen, dass ich aus einem traditionell polnisch-
jüdischen Haus stamme. Aber ich bin nicht Kultusdezernent der Orthodoxen oder der Liberalen, sondern aller Juden in Deutschland. Seit 18 Jahren bin ich im Präsidium des Zentralrats. Da geht es nicht um orthodox und liberal. Ich habe beste Kontakte in beide Richtungen. Ich war im vergangenen Jahr drei-
mal in Jerusalem bei den Oberrabbinern Israels. Und Uri Regev, Präsident der Weltunion der progressiven Juden, habe ich mehrmals getroffen, auch in London und Israel.
Das israelische Oberrabbinat hat großen Einfluss auf Deutschland. Warum?
kalmanowicz: Das hat eine Vorgeschichte. Vor etwa 15 Jahren schloss sich die deutsche Orthodoxie der Europäischen Rabbinerkonferenz in London an. Wir können uns hier nicht selbstständig machen, denn wir haben keine Dajanim, keine rabbinischen Richter. Doch London war schon damals nicht bereit, die Schtetl-Mentalität aus dem Russland des 19. Jahrhunderts abzulegen. Zum Beispiel waren durch die strikten Regeln jährlich vielleicht fünf Übertritte in Deutschland möglich. So kam es zur Abkehr von London und zur Hinwendung nach Jerusalem. Seitdem gibt es eine Kooperation zwischen der ORD und dem Oberrabbinat. So haben wir auch eine reale Aussicht, den Großteil unserer dringlichsten Probleme zu lösen.
Zum Beispiel?
kalmanowicz: Dass Zehntausende russischsprachige Zuwanderer in Deutschland leben, die nicht den Weg in die Gemeinden finden. Viele stehen aus halachischen Gründen vor der Tür.
Meinen Sie die »Juden väterlicherseits«?
kalmanowicz: Ja. Sie sind halachisch keine Juden. Doch viele von ihnen haben in ihrer alten Heimat über Generationen hinweg gelitten, weil sie dort als Juden galten. Und sie sind hauptsächlich aus diesem Grund ausgewandert. Und jetzt in Deutschland erzählt man ihnen, dass sie nicht in die Gemeinden aufgenommen werden können. In diesem Fall habe ich doch nur zwei Möglichkeiten: Entweder auf sie zu verzichten für alle Zeit, was niemand wirklich will. Oder ich gebe ihnen eine reale Möglichkeit zum Übertritt und nehme in Kauf, dass sie nicht hundertprozentig nach orthodoxem Ritus leben. Aber das tun 98 Prozent der Juden, die heute hier leben, auch nicht. Deshalb bin ich der Meinung, dass wir die Regeln für die orthodoxe Konversion entschärfen und den tatsächlichen Gegebenheiten und Lebensgewohnheiten anpassen müssen. Auch das israelische Oberrabbinat teilt inzwischen diese Einstelllung.
Was heißt das konkret?
kalmanowicz: Das Oberrabbinat hat in Is-
rael Konversionskurse eingeführt, an denen derzeit etwa 5.000 Schüler teilnehmen. Ein Kurs besteht aus 400 Unterrichtseinheiten. Sie sind aufgebaut wie in einem akademischen Studiengang. Und sie lassen sich auch im Fernstudium absolvieren. Die Prüfungen am Schluss werden dann hauptsächlich aus Multiple-Choice-Fragen bestehen – zeitgemäß, praxisbezogen, lebensnah.
Wird es derartige Kurse auch in Deutschland geben?
kalmanowicz: Ja. Das Oberrabbinat hat Deutschland neben Costa Rica als Testfeld für den Versuch einer erleichterten Konversion ausgewählt. Hier bei uns ist das Problem am drängendsten.
Handelt es sich dabei um ein »Giur light«?
kalmanowicz: Nein. Dieser Giur erfordert einiges. Da reicht es nicht, mal eben ein paar Bücher übers Judentum durchzulesen. Diese Kurse sind bei uns in etwa einem Jahr zu absolvieren. Man muss sich dabei schon bemühen. Denoch es gibt erhebliche Erleichterungen. Bis jetzt war es beim orthodoxen Giur erforderlich, dass man in einer Großstadt neben einer Synagoge lebt, um dort am täglichen Gottesdienst teilnehmen zu können. Durch die Möglichkeit des Fernstudiums ist das nun anders. Das ist wichtig für unsere Gemeinden, wo ja nicht jeder in München, Berlin und Frankfurt wohnt. Gleichwohl wird natürlich nach wie vor verlangt, dass man täglich betet. Und die Kandidaten werden selbstverständlich versprechen müssen, dass sie die Mizwot einhalten. Auch die neuen Richtlinien sehen vor, dass sie sich ehrlich und aufrichtig zur Tora und den religiösen Pflichten bekennen.
Werden russischsprachige Zuwanderer diese Chance nutzen?
kalmanowicz: Ja, das denke ich schon. Die meisten Konversionswilligen sind ja nicht ältere Hartz-IV-Empfänger, sondern meist 20- bis 50-Jährige, die mitten im Leben stehen. Sie kommen mit dem Übertrittswunsch, weil sie zum Beispiel heiraten oder ihre Kinder in der Gemeinde anmelden wollen.
Mit wie vielen Übertritten rechnen Sie?
kalmanowicz: Wir haben heute bei der ORD etwa 100 bis 200 pro Jahr. Wenn sich diese neue Möglichkeit erst einmal herumgesprochen hat, schätze ich, dass es 1.000 bis 2.000 sein werden. Zehntausende sind mittelbar betroffen. Und mit ihnen auch immer noch weitere Menschen: die Frau oder der Mann, die Kinder und die Enkel.
Ab wann wird es die ersten Kurse geben?
kalmanowicz: Noch in diesem Jahr. Die 400 Unterrichtseinheiten werden derzeit ins Deutsche und ins Russische übersetzt. Danach kann das Programm von der ORD eingeführt werden.
Das Gespräch führten Christian Böhme und Detlef David Kauschke.