von Hannah Miska
Über Monate weinten sie abends vor dem Einschlafen. Kevin (6) und seine Schwester Leigh-Ann (4) vermissten ihre Freunde, Cousins und Cousinen, die Großmutter und das schwarze Hausmädchen, das in Johannesburg immer für sie da gewesen war. Für Lynn und Jody, mit 43 und 46 Jahren keine jungen Eltern mehr, war dies eine Zeit voller Selbstzweifel: Hatten sie mit ihrem Entschluss, von Südafrika nach Australien auszuwandern, die richtige Entscheidung getroffen?
Nach dem Ende der Apartheid und den ersten demokratischen Wahlen 1994 waren die Bosmans zunächst voller Hoffnung auf eine sozial gerechtere Gesellschaft gewesen. Jody, in einem leitenden Posten in der Johannesburger Stadtplanung, engagierte sich im staatlichen Wiederaufbau- und Entwicklungsprogramm, plante Häuser, Schulen und Kliniken für die Townships, und ging, mit dem Spaten in der Hand, vor Ort, um Hilfe zur Selbsthilfe zu leisten.
Doch der Fortschritt ließ auf sich warten. Die Hoffnungen der Bosmans wurden enttäuscht, das Leben gestaltete sich zunehmend schwieriger: Die städtische Infrastruktur brach zusammen, die medizinische Versorgung war nicht mehr gesichert, das Bildungswesen verschlechterte sich, akademische Abschlüsse wurden fragwürdig. Gleichzeitig stieg die Kriminalität: Überfälle, Entführungen, Vergewaltigungen und Morde waren an der Tagesordnung. Die Bosmans zogen in einen Stadtteil, der mit hohen Mauern und Stacheldraht umgeben war, das große Grundstück hatte zusätzlich eine hohe Mauer und ein gesichertes Tor: Sie waren eingeschlossen im eigenen Haus. Als auch noch die jüdische Gemeinde schrumpfte und Synagogen geschlossen wurden, reifte in ihnen der Entschluss, alles aufzugeben.
Seit Frühjahr 2002 leben Lynn und Jody mit ihren beiden Kindern in Australien. Das Haus in Melbourne ist deutlich kleiner als das in Johannesburg. »Am Anfang habe ich den großen Garten vermisst und den Pool – aber es ist viel cooler, in den Park und ins Schwimmbad zu gehen und da meine Freunde zu treffen«, sagt Kevin mit deutlich australischem Zungenschlag. Leigh- Ann strahlt. »Und ich fahre allein mit dem Fahrrad in die Schule!«
Als englischsprachiges Land mit einem vergleichbaren Klima ist Australien heute das bevorzugte Auswanderungsziel für etwa die Hälfte aller südafrikanischen jüdischen Emigranten. Die große Auswanderungswelle begann in den 70er-Jahren. Von den 21.000 Juden, die zwischen 1970 und 1979 emigrierten, gingen die meisten noch nach Israel und in die USA. Doch bald lief Australien beiden Ländern den Rang ab: Zwischen 1980 und 1991 wählte bereits knapp ein Viertel der jüdischen Auswanderer den Fünften Kontinent als Ziel, in den 90er-Jahren war es gar die Hälfte. (Die andere Hälfte emigrierte nach Nordamerika, Israel, England und Neuseeland.)
Machte der Anteil der südafrikanischen Juden an der jüdischen Bevölkerung Australiens 1961 nur 0,4 Prozent aus, sind es heute stolze 12,5 Prozent. Die meisten Zuwanderer aus Südafrika sind sehr gut ausgebildet und haben keine Schwierigkeit, Arbeit zu finden. Auch die Bosmans erhielten innerhalb weniger Tage mehrere Jobangebote. In der jüdischen Gemeinde wurden sie mit offenen Armen empfangen, die Synagoge ist zu Fuß erreichbar. Lynn und Jody sind glücklich, dass ihre Kinder in einer starken jüdischen Gemeinde und zugleich in einer sicheren und toleranten Gesellschaft leben können.
Auch Marissa hat sich ihre Entscheidung sehr gut überlegt. Sie hatte 1994, als in Südafrika die Apartheidsregierung abgelöst wurde, gerade ihr Studium beendet und war froh über den politischen Wechsel. Sie begann, in einer staatlichen Schule 40 schwarze Kinder aus schwer geschädigtem sozialen Milieu zu unterrichten, die kaum Englisch sprachen.
Die Arbeit machte ihr Spaß, aber Marissa, die bisher ein sehr behütetes Leben geführt hatte, lernte in ihrer Berufswelt Korruption und Machtmissbrauch kennen und das Gefühl, gegen verschlossene Türen zu rennen. Sie wusste: Wenn sie in Südafrika bleibt, muss sie für den Rest ihres Lebens mit den Scherben der Apartheidspolitik leben. Und das wollte sie nicht.
Schweren Herzens entschloss sie sich zur Auswanderung nach Australien und ging zunächst zu ihrer Schwester nach Perth. Inzwischen lebt Marissa in Melbourne und arbeitet in der Bildungsabteilung des Jüdischen Museums. Ihr Freund Adam, den sie kurz vor der Auswanderung kennengelernt hatte, ist inzwischen nachgezogen, die beiden haben geheiratet, und Marissa erwartet ihr erstes Kind. Adams Familie hat den Schritt nie unterstützt.
»Die Emigranten, die während der Apartheid ausgewandert sind, sind die Einzigen, die moralische Gründe für sich beanspruchen können«, erklärt leidenschaftlich eine Frau, die ihren Namen nicht in der Zeitung lesen möchte. Sie hat wenig Verständnis für jene Landsleute, die erst nach 1994 emigriert sind und oft ihrem privilegierten Leben in Südafrika nachtrauern. Sie selbst kam 1987, und auch das sei viel zu spät gewesen, sagt sie. Zehn Jahre lang hätte sie immer wieder überlegt, das Land, in dem der Rassismus zum Gesetz geworden war, mit ihrem Mann und ihren beiden Kindern zu verlassen. Doch sie brachte es nicht übers Herz, ihre Eltern allein zu lassen. Als sie dann doch die Entscheidung traf und in Australien ankam, fühlte sie sich mit einem Schlag befreit. Heute muss sie sich den kritischen Fragen ihrer Kinder stellen.
Eines haben die Bosmans, Marissa und viele andere Neueinwanderer gemeinsam: Sie fühlen sich aufgenommen und akzeptiert in Australien, sie schätzen die Offenheit und Toleranz ihrer neuen Landsleute. »Nur eines fehlt«, sagt Kevin, »richtige Tiere: Elefanten, Löwen und Giraffen.«