von Frank Rothert
Im Süden Berlins lebt Peter Nolte, er ist 66 Jahre alt und berichtet von einer Recherche: die Kommilitonen von 1933, genauer die Studenten, die 1933 als Juden die Friedrich-Wilhelm-Universität in Berlin, die heutige Humboldt-Universität (HU) verlassen mussten. »Keine Universität hat so viel über ihre dunkelste Vergangenheit geforscht wie die Humboldt-Uni«, sagt Nolte. »Was aber fehlt, ist die Erforschung des Verbleibs der jüdischen Studenten.«
1990 steht Peter Nolte als ehemaliger DDR-Lehrer plötzlich auf der Straße. Er bekommt eine ABM an der HU. Seine Aufgabe: Vervollständigung und Ergänzung des bis 1945 geführten »Hochschullehrerverzeichnises«. Plötzlich machen ihn Einträge neugierig: »Lehrbefugnis entzogen«. 95 Mal findet er das und sucht weiter, doch bald ist die ABM ausgelaufen.
Nolte wendet sich anderen Themen zu, einem Buch über den Chemiker Christian Friedrich Schönbein etwa. Um das Jahr 2000 wird er erneut auf das Thema aufmerksam. Da werden viele Wissenschaftler rehabilitiert, denen nach 1933 die akademischen Grade aberkannt wurden.
Nolte macht die Zeitzeugen Lisa Fittko und Rudolf Arnheim in den USA ausfindig. Sein Nachbar, der HU-Philosoph Richard Schröder, erfährt von der Sache. »Da müssen Sie hin«, sagt er. »Und wenn ich es selbst bezahle.« Nolte weiß sich anders zu helfen. Ein Geldinstitut spendet 1.000 Euro, und schon landet er im Sommer 2000 in Detroit, um erste Interviews zu führen. Als Nolte mit den Bändern, neuen und weiteren Adressen nach Berlin zurückkehrt, beantragen Richard Schröder und der Wissenschaftshistoriker Rüdiger vom Bruch für die HU Fördergelder bei der Fritz-Thyssen-Stiftung. Die unterstützt ab 2000 das Projekt »Erforschung des Verbleibs der in der Zeit von 1933-1945 aus politischen und rassischen Gründen verfolgten Angehörigen der Friedrich-Wilhelm-Universität«.
Peter Nolte sucht nicht nur nach Wissenschaftlern, sondern auch nach Studenten. Archiv und Internet geben zunächst insgesamt 110 Namen preis. Plötzlich findet Nolte in der HU 10.000 Karteikarten, auf deren Rückseite Angaben zur Religionszugehörigkeit stehen. Nolte weiß nun, dass 1.900 Studenten angaben, Jude zu sein. Per Internet findet er die Adressen von 165 Menschen in den USA. Schon die ersten Anrufe offenbaren die Dimension. Einmal hört er: »Mein Mann lebt nicht mehr, aber wir haben Auschwitz überlebt.« Nolte steht unter Zeitdruck. »Die leben doch nicht ewig«, sagt er. Er bekommt Briefe, Fotos und über 20 von den Zeitzeugen verfasste Autobiografien. 65 Interviews führt er auf seinen Recherchereisen. In Entschädigungskarteien findet er weitere 700 Namen und fragt sich, wo die Zahlung hinging. Manchmal kann er die Empfänger ermitteln, doch oft kommt er zu spät. Rund 1.000 Personen sind bis heute nicht auffindbar. Die meisten Ex-Studenten, die Nolte findet, freuen sich. Von der Uni vertrieben worden zu sein, hat keiner verschmerzt. Ein israelischer Gesprächspartner sagt: »Es gibt zwei Dinge, die mir bis heute wehtun. Kein Arzt geworden zu sein und meine Eltern nicht aus Deutschland herausbekommen zu haben.« Auf Initative Noltes lädt die HU im Jahr 2001 zu einem Treffen der Ehemaligen ein. 22 ehemalige Studenten kommen nach Berlin. Stadtrundfahrt, Sektempfang, Pressegespräch, Immatrikulationsfeier, ein Gespräch mit Bundestagsvizepräsident Wolfgang Thierse und eine Podiumsdiskussion finden statt. »Ich war froh, dass man sie eingeladen hat«, sagt Nolte.
Doch sein Zeitvertrag läuft im März 2003 aus. »Die Einstellung des Projekts nach solch erfolgreichen Ergebnissen habe ich nie verstanden«, sagt er resigniert. »Nach einer Weile habe ich mich bei den Zeitzeugen nicht mehr gemeldet, weil immer gefragt wurde, was denn nun passiert. Das war mir auf Dauer sehr peinlich.«
Die Universität hat nur Interesse an der Datensammlung, nicht an seinen übrigen Materialien. Nolte bietet seine Filminterviews, Briefe und Fotos dem Jüdischen Museum Berlin und dem Centrum Judaicum an. »Kein Interesse«, heißt es. Nolte macht Vorschläge für ein Buch – vergebens.
Um das Treffen der Kommilitonen von 1933 wurde im Jahr 2001 viel Aufhebens gemacht. Doch danach passierte nicht mehr viel. »Darüber bin ich auch sehr unglücklich«, sagt Rüdiger vom Bruch. Weitere Forschungen seien nicht geplant. Immer wieder habe er versucht, Studenten für eine Examensarbeit zu diesem Thema zu gewinnen. Die winken aber meist ab: »schon wieder« ein NS-Thema.
Was Peter Nolte bleibt, sind Erinnerungen, sein Archiv und Kontakte zu ehemaligen Kommilitonen wie Elly Freund.
Bat Jam. Südlich von Tel Aviv im Mediterranean Tower öffnet Dr. Elly Freund ihr in luftiger Höhe befindliches Appartement mit Meeresblick. »Ich war die letzte Jüdin, die in Berlin das Staatsexamen gemacht hat«, berichtet die 1909 in Breslau geborene pensionierte Kinderärztin. Sie hatte ihr Studium 1933 abgebrochen, doch als sich im Laufe des Jahres 1936 die Lage durch die Olympischen Spiele kurzzeitig entspannte, studierte sie weiter und absolvierte das medizinische Staatsexamen 1937 mit »gut«.
Ein normales Studium war das natürlich nicht mehr. »Die Examina habe ich bei Professoren gemacht, die außerhalb saßen, die Charité habe ich von innen nie gesehen«, erzählt sie. »Ich habe mich theoretisch mit Büchern geschult.«
Auch Elly Freund wundert sich, dass aus Berlin nach so viel Tamtam nichts mehr zu hören ist: »Schade. Ich habe das Gefühl, die Uni hilft Peter Nolte nicht und hat ihn fallen lassen.«
Doch Rüdiger vom Bruch berichtet plötzlich, dass es Anlass zur Hoffnung, gibt. Denn zur 200-Jahr-Feier der Universität im Jahr 2010 sei jetzt doch ein Buch zum Thema geplant. Dann könnte die Recherche des Peter Nolte noch einen Abschluss finden.