von Ben Harris
Rabbi Capers Funnye, das geistliche Oberhaupt der Ethiopian Hebrew Congregation Beth Shalom in Chicago, möchte, dass man weiß, wie gern er Gefilte Fisch mag. »Ich liebe Gefilte Fisch«, sagt er, »und ich liebe Borschtsch.« Einige Mitglieder seiner Gemeinde wüssten nicht einmal, was Borschtsch sei. Da Funnyes Gemeinde überwiegend aus Afroamerikanern besteht, über- rascht das kaum. Doch auch wenn Gefilte Fisch wohl nicht so bald als Kiddusch-Essen bei Beth Shalom Einzug halten werden, bringt der Rabbiner seine Gemeinde der jüdischen Gemeinschaft von Chicago näher, als es die meisten seiner schwarzen Kollegen bislang wagten. »Ich habe mir zum Ziel gesetzt, mich in die jüdische Gemeinschaft einzubringen«, sagt Funnye. Für ihn und für viele andere afroamerikanische Juden sei es wichtig zu sehen, dass das Judentum sich nicht auf bestimmte »rassische Gruppierungen« beschränkt.
Schwarze jüdische Gemeinden – die meisten wollen lieber »Hebräer« oder »Israeliten« genannt werden – existieren in den USA seit etwa hundert Jahren. Sie hielten sich aber im Allgemeinen abseits von der übrigen jüdischen Gemeinschaft. Zum Teil ist diese Absonderung ein Erbe der Segregation, die schwarze und weiße Kirchen und Synagogen noch immer trennt. Eine zweite Wurzel ist das, was Gary Tobin, Präsident des Institute for Jewish and Community Research, die »obsessiv-alberne« Beschäftigung des amerikanischen Judentums mit der Frage, wer Jude ist und wer nicht, nennt. »Ich glaube, dass die Juden, nachdem sie jahrhundertelang abgelehnt, verfolgt und diskriminiert wurden, eine Art Selbstkritik und die lähmende Sorge verinnerlicht haben, wer dazu gehört und wer nicht«, erläutert Tobin. »Kein Katholik oder Muslim verbringt so viel Zeit wie wir Juden damit, darüber zu entscheiden, wer echter Muslim oder echter Katholik ist.«
Erschwert wird das Problem durch den Glauben, die ursprünglichen Juden seien Afrikaner gewesen – ein Herzstück der schwarz-jüdischen Überlieferung. Wie andere Afroamerikaner, die nichtchristliche Religionen angenommen haben, sehen schwarze Juden im Judentum ein Mittel, um das Erbe wiederzuerlangen, das ihnen durch den Sklavenhandel entrissen wurde – was wahrscheinlich auch ihre große Affinität zur Exodus-Erzählung erklärt. In der Folge zögern viele, offiziell zu konvertieren, aus Angst, damit ihre Behauptung zu unterminieren, sie seien jüdischer Herkunft. »Wir sind Menschen, die das Wissen zurückgewinnen, wer sie sind«, sagt Moshe Ben Yisrael, der Präsident der Chicagoer Beth-Shalom-Synagoge.
Rabbi Funnye ist einer der Wenigen, seien sie schwarz oder weiß, die aktiv daran arbeiten, im amerikanischen Judentum die Kluft zwischen den Rassen zu überbrücken. Er setzt sich für den Austausch zwischen seiner Gemeinde und den etablierten Synagogen Chicagos ein. Und vermutlich ist er der einzige schwarze Rabbiner der USA, der in der Rabbinerversammlung seiner Heimatstadt sitzt. Funnye wurde an der Israelite Rabbinical Academy in New York ordiniert, wo alle schwarzen Rabbiner ausgebildet werden. »Was ihn so interessant macht, ist, dass er Brücken baut zum weißen, tonangebenden Mainstream-Judentum in den Vereinigten Staaten«, sagt Tobin. Dass Funnye von der etablierten jüdischen Gemeinschaft akzeptiert wird, ist zum Teil auch auf seine Bereitschaft zurückzuführen, sich einer formalen Konversion zu unterziehen, einer »Re-version«, wie er es gern nennt. Er konvertierte 1985 vor einem gemischten Rabbinatsgericht aus orthodoxen und konservativen Rabbinern. Bei Beth Shalom wer- den alle neu Hinzukommenden aufgefordert, es ihm gleichzutun. »Wer in meine Gemeinde kommt, muss, solange ich sie leite, die ›geltenden halachischen Gebote‹ befolgen, durch die man Jude wird«, sagt Funnye. Doch: »Das nimmt aber nichts weg von unserer Auffassung, dass Abraham, Isaak und Jakob farbige Juden waren.«
Der Gottesdienst bei Beth Shalom ist jedem regulären Synagogenbesucher vertraut. Der Wochenabschnitt wird auf Hebräisch aus einer Torarolle gelesen, die Gebete werden zumeist in Englisch aus dem Artscroll-Siddur, einem viel verwendeten orthodoxen Gebetbuch, gesungen. Männer und Frauen sitzen getrennt, es gibt keine Mechiza. Die Gemeinde hält jedoch auch ihre ureigene, tief von der afroamerikanischen Erfahrung geprägte Tradition aufrecht. So tritt nach dem Gottesdienst ein Gospelchor auf und bietet – begleitet von Schlagzeug und Gitarre – einige Lieder dar, unter anderem »Lift Every Voice«, das auch als »schwarze Nationalhymne« bekannt ist. Die Männer begrüßen sich, indem sie sich am Ellbogen fassen und ihre Köpfe dreimal – symbolisch für die drei Vorväter – zusammenbringen. Einige tragen Anhänger mit der Landkarte von Afrika um den Hals.
Wenn Funnyes Stellvertreter, Rabbi Joshua Salter, während des Gottesdiensts aufsteht und nach vorn geht, stolziert er wie ein Baptistenprediger auf die Bühne und hält seine Predigt im Stil von Rufen und Antworten, während die Gemeindemitglieder »Lehr uns« und »Halleluja« rufen. Viele Mitglieder der schwarzen jüdischen Gemeinde wurden als Christen erzogen, wuchsen in Kirchengemeinden auf. Ihre Geschichten, wie sie sich dem Glauben entfremdet fühlten, bis sie auf das Judentum stießen, ähneln einander: So erzählt der Sozialarbeiter Bruce Carey zum Beispiel, er habe als Kind das Christentum nie verstanden. Doch das Judentum habe ihm geholfen, sich wieder mit seiner afrikanischen Identität zu verbinden.
Dinah Levi, die als Baptistin aufwuchs und mit 56 Jahren ihre Batmizwa feierte, sagt, sie sei jedes Mal betroffen, wenn sie aschkenasische Juden treffe, die nicht glauben können, dass es schwarze Juden gibt. »Immer sind sie überrascht«, wundert sich Levi, »das sollten sie nicht sein.«