von Ulrich gregor
Michale Boganims Odessa, Odessa … ist ein nostalgisch-poetischer Dokumentarfilm, der Erinnerung beschwört, Gedanken und Reminiszenzen weckt, Personen porträtiert. Es geht um Odessa, die legendäre Hafenstadt am Schwarzen Meer. Doch das Odessa des Films steht auch symbolisch für das Exil. Die Menschen sind unterwegs, auf der Reise, auf der Suche nach ihren Hoffnungen, vielleicht nach einem Traum von Freiheit, aber auch nach ihren Erinnerungen, nach Odessa als imaginärer Vorstellung, als Heimat, als Ort von Projektionen, als Fixpunkt.
Der Film beginnt mit einer Studie von Menschen aus dem Odessa von heute, alten Frauen, die in einem Gemisch aus Jiddisch und Russisch über ihr Leben und ihre Erinnerungen sprechen, Lieder singen und Tanzschritte versuchen; dazwischen promeniert die Kamera durch Straßen und über Plätze, tastet zerfallende Fassaden ab, blickt in skurrile Hinterhöfe, Interieurs, Abstellkammern mit Gerümpel.
Der zweite Teil führt in das »Little Odessa« genannte Viertel Brighton Beach, ein Stadtteil von Brooklyn, in dem viele jüdische Einwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion leben. Männer spielen Schach, sprechen über Amerika, unternehmen, wie Touristen, einen Ausflug nach Manhattan. Frauen auf einer Bank singen »God bless America« und schwenken US-Fahnen. Dazwischen rumpeln U-Bahnen über die Gleise, die Kamera schwelgt in Strand-, Sand- und Meeres-Panoramen.
Der dritte Teil spielt im israelischen Aschdod, wie Odessa und Brighton Beach eine Stadt am Meer. Ein älterer Mann arbeitet als Straßenfeger. Die aus dem ukrainischen Odessa emigrierten Juden – zu ihrer Verwunderung von den Einheimischen ständig »Russen« genannt – scheinen sich als Fremde im eigenen Land zu fühlen. Der Zuschauer wird Zeuge der Differenzen zwischen Angehörigen verschiedener Volksgruppen, Marokkanern, Äthiopiern, Georgiern. Ein Neuankömmling steigt mit nachdenklichem Blick aus dem Flugzeug.
Zwei Motive verbinden die Episoden. Einmal ein Mann mit einem Koffer, der zu Beginn, zu Ende und auch zwischendurch auftaucht. Das zweite Motiv ist die häufig eingeblendete breite Hafentreppe von Odessa, eine Reminiszenz an Eisensteins legendären Film Panzerkreuzer Potemkin .
Michale Boganim bedient sich einer sensiblen Bildsprache. Schlüsselbilder sind das Meer, Boote und Schiffe, eine baumbestandene Allee in Odessa und die dortige »Judengasse«. Langsame, fließende Kameraschwenks verbinden einzelne Motive und erzeugen ein Gefühl der Kontinuität, bewirken eine Verschmelzung der Ebenen. Manchmal sind die Überblendungen so subtil, daß die Grenze zwischen Orten und Zeiten, Gegenwart und Erinnerung, Beobachtung und Imagination ver- schwimmt. Viele Bilder des Films sind gestaltet wie impressionistische Gemälde. Horizont, Farben und Konturen lösen sich auf und gehen ineinander über, dann wieder sind die Beobachtungen von dokumentarischer Schärfe und Genauigkeit.
In der Schlußsequenz kehrt der Film nach Odessa zurück. Wieder sieht man das Meer mit einem Schiff am Horizont – Symbol der Reise, der Ferne, der Unerreichbarkeit.
Mit freundlicher Genehmigung des Berlin Jewish Film Festival