von Florian Neuhann
Die Szene, die das Forscherleben von Michael Bar-Eli bestimmt, liegt 32 Jahre zurück. Sonntag, 7. Juli 1974, WM-Finale Deutschland gegen Holland in München. 30 Sekunden nach Anpfiff sprintet Johan Cruyff, der Star der Niederlande, in den Strafraum, Uli Hoeneß foult, Elfmeter. Neeskens legt sich den Ball zurecht, läuft an – und knallt das Leder hart genau in die Mitte des Tores. »Ich habe nie verstanden, warum der deutsche Torhüter Sepp Maier damals nicht stehengeblieben ist«, sagt Michael Bar-Eli. Noch heute kann er sich so richtig erregen, wenn er an die Szene denkt. »Wäre Maier einfach dort geblieben, wo er stand, dann hätte er den Ball mit Sicherheit gehabt.« Maier aber hechtete zur Seite und griff ins Leere. 1:0 für Holland in der ersten Minute.
Bar-Eli ist Sportwissenschaftler an der Ben-Gurion Universität in Beerschewa. Das Thema Elfmeter hat ihn seit 1974 nicht mehr losgelassen. Ihn fasziniert diese Extremsituation, die Spielen eine vollkommen überraschende Wendung geben kann oder die Entscheidung bringen muß, wie vor zehn Tagen beim Elfmeterschießen im WM-Finale zwischen Italien und Frankreich. Wissenschaftler wie Bar-Eli suchen nach den besten Strategien im Duell Schütze gegen Torwart. Dabei ist die Sache rechnerisch gesehen eine klare Angelegenheit. 70 bis 80 Prozent der Elfmeter werden verwandelt. Einen präzise und hart geschossenen Elfmeter kann der Torhüter nicht abwehren. Der Grund dafür ist simple Physik: Gute Spieler schießen den Ball mit einer Geschwindigkeit von bis zu 130 Stundenkilometern in eine Ecke des Tores. Nach knapp einer Drittelsekunde ist der Ball demnach über die Torlinie geflogen. Mindestens genauso lange aber braucht ein Torhüter allein für die Reaktion. Bis er sich gestreckt hat, dauert es nochmal genauso lange, wenn er in die oberen Ecken fliegen muß, dauert es noch länger.
Daß es dennoch für die Schützen immer wieder schiefgeht, hat mentale Gründe. Psychologen beschreiben das Phänomen als »Choking under pressure« (etwa: Versagen unter Druck). Wenn Menschen unter Druck stehen, versagen sie bei Leistungen, die sie normalerweise ohne Wimpernzucken vollbringen würden. »Vermutlich, weil sie dann über die Teilschritte einzeln nachdenken, die sie sonst automatisch machen«, sagt der Sportpsychologe Bernd Strauß von der Universität Münster. Aus Nervosität verlieren selbst gestandene Spieler ihren Bewegungsfluß.
Zudem können erfahrene Torhüter meist schon vor dem Schuß erahnen, in welche Richtung der Spieler schießt. Sie beobachten dafür die Hüftstellung der Schützen, berichteten britische Forscher um Mark Williams von der Liverpool John Moores University vor einiger Zeit im Wissenschaftsmagazin New Scientist. »Wenn die Hüften 120 Millisekunden vor dem Schuß bei einem Rechtsfüßer in rechtem Winkel zum Fuß stehen, geht der Schuß wahrscheinlich auf die vom Schützen aus gesehen linke Seite«, sagt Williams. Doch selbst mit der Erfahrung von einigen tausend Elfmetern ist der Torwart oft allein auf sein Gefühl angewiesen. »Dann wirft er sich einfach – wie Sepp Maier 1974 – in eine Ecke«, sagt Michael Bar-Eli. Die Strategie dabei: Für den Fall, daß sie die richtige Ecke geraten haben, erhoffen sie sich von der vorzeitigen Entscheidung die entscheidenden Millisekunden Zeitersparnis, die es möglich machen, den Ball abzuwehren.
Sein Gefühl, daß dieses Verhalten dennoch in der Regel nicht sinnvoll ist, hat Bar-Eli nun in einer statistischen Untersuchung belegen können: Der israelische Forscher analysierte mit seinen Mitarbeitern 286 Strafstöße bei Welt- und Europameisterschaften sowie in der Champions League. Wohin schoß der Schütze, wohin sprang der Torhüter, und was war das Ergebnis? »Wenn die Torhüter zufällig in die richtige Ecke sprangen, erwischten sie die Bälle nur in gut einem Viertel der Fälle«, sagt Bar-Eli. »Dagegen halten sie sechs von zehn Bällen, die auf die Mitte geschossen werden, wenn sie stehen bleiben.«
Das Problem: Ein Torwart, der sich nicht bewegt, widerspricht der Norm: Zuschauer, Kollegen und Trainer erwarten, daß er hechtet – alles andere würde als Laschheit ausgelegt. »Und wenn, wie hier, Norm gegen rationales Verhalten steht, dann setzt sich die Norm durch«, sagt Bar-Eli.
Mathematisch rein läßt sich das Elfmeterschießen ohnehin kaum fassen. Denn im Duell Schütze gegen Torwart kommen allerlei zusätzliche Aspekte zur Geltung. Zum Beispiel Strategie. Wie Jens Lehmann bei der vergangenen WM wissen professionelle Torhüter in der Regel, wohin die etablierten Schützen des Gegners am liebsten zielen. Auch, welche Ecke der Torwart bevorzugt, ist meist kein Geheimnis. Aber können Schütze und Torwart wirklich davon ausgehen, daß der andere sich in der entscheidenden Situation wirklich so verhält wie erwartet? Wäre es nicht besser, das Gegenteil zu machen? Und was ist, wenn der Gegner genau damit rechnet?
Hier wird das Duell für Wirtschaftswissenschaftler wie Ofer Azar interessant. Denn es könnte Informationen darüber liefern, wie sich Menschen generell in solchen Extremsituationen verhalten. »Wichtig ist beim Elfmeter wie in der Wirtschaft, daß der Kontrahent das eigene Verhalten nicht vorhersehen kann«, sagt Azar, der ebenfalls an der Ben-Gurion-Universität lehrt. »Deshalb sollten die Spieler nicht immer nur in eine Ecke schießen, das würde sich schnell herumsprechen.« Stattdessen sollten sie ein Muster finden, das fast wie Zufall aussieht.
Der US-Mathematiker John F. Nash hat eine solche Formel 1950 errechnet: das sogenannte Nash-Gleichgewicht. Diese Lösungsstrategie in der Spieltheorie fand zwar in der Fachwelt große Beachtung. Doch lange war unklar, ob Menschen in der Realität sich tatsächlich gemäß den Annahmen von Nash verhalten. Ausgerechnet das Elfmeterduell liefert nun den Beweis. Azar hat herausgefunden: »Intuitiv verhalten sich Profifußballer in der Praxis genau so, wie Nash es errechnet hatte.«
Für die Wirtschaftswissenschaft ist das eine interessante Hypothese. Für den Elfmeterschützen ist sie allerdings wertlos. Für ihn gilt: Ruhigbleiben und konzentriert den Ball in eine obere Ecke des Tores schießen. Erstaunlich, daß laut Bar-Eli nur 13 Prozent der 286 von ihm ausgewerteten Schüsse dorthin plaziert werden – denn die Keeper hielten keinen einzigen davon. So wie bei den Italienern und Franzosen im Elfmeterschießen am 9. Juli in Berlin. Daß der Franzose David Trezeguet zu genau gezielt hatte und den Ball an die Unterkante der Latte zirkelte, obwohl Italiens Torwart Buffon längst in die andere Ecke unterwegs war, nennt man wohl Pech. Und dagegen hilft auch keine Mathematik.